"Nase gestrichen voll"

Moderation: Marie Sagenschneider · 12.07.2007
Der Boykott des Integrationsgipfels durch Migrantenverbände resultiert nach Ansicht der Sprecherin des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg, Eren Ünsal, aus der Enttäuschung über das Verhalten der Bundesregierung. Diese habe den Eindruck erweckt, eine neue Ära stünde bevor, in der Migrantenverbände aktiv eingebunden würden, sagte Ünsal. Hinterrücks seien jedoch Gesetze ohne jede Abstimmung mit den Verbänden geändert worden.
Marie Sagenschneider: Eren Ünsal ist Sprecherin des Türkischen Bundes in Berlin und nun am Telefon von Deutschlandradio Kultur. Frau Ünsal, ich grüße Sie.

Eren Ünsal: Ja, guten Morgen.

Sagenschneider: Nun wären Sie heute bei der Präsentation der Ergebnisse ohnehin nicht dabei gewesen. Aber hätten Sie eine Einladung zum Integrationsgipfel erhalten, wären Sie dann hingegangen?

Ünsal: Nein, sicherlich nicht. Wir hätten uns auf jeden Fall auch dem Protest der türkischen Gemeinde in Deutschland angeschlossen und wären heute nicht hingegangen.

Sagenschneider: Was ärgert Sie denn am meisten an diesem neuen Zuwanderungsgesetz?

Ünsal: Es sind sehr, sehr viele Punkte, die ich hier nennen könnte. Aber ein für mich ganz, ganz wichtiger Punkt ist, dass durch die gesetzlichen Änderungen quasi Zwei-Klassen-Menschen geschaffen werden. In dem Zusammenhang ist besonders interessant, dass gerade auch bei deutschen Bürgerinnen und Bürgern tatsächlich jetzt zwei Klassen aufgemacht werden. Das heißt, es wird unterschieden zwischen den Menschen, die als Deutsche geboren sind, sogenannte ethnische Deutsche, und zwischen denen, die sich haben einbürgern lassen. Das ist in dem Zusammenhang auch sehr stark zu kritisieren, als dass die Bundesregierung immer in der Integrationspolitik in die Richtung argumentiert hat, zu sagen, Migranten müssen sich einbürgern lassen, die Einbürgerung würde sehr viele Probleme lösen. Nun ist es so, dass ganz viele sich tatsächlich haben einbürgern lassen und vor einem Gesetz stehen, das sie jetzt trotzdem zum Bürger zweiter Klasse macht.

Sagenschneider: Inwiefern? Vielleicht können Sie das erklären.

Ünsal: Ja, ich könnte es mit einem einfachen Beispiel erklären. Also, wenn jetzt zum Beispiel meine deutschstämmige Freundin und ich in die Türkei fahren würden, uns dort verlieben würden spontan in einen türkischen Mann und nach Deutschland kämen, durch einen Zufall unsere Arbeit verlieren würden, dann könnte meine deutschgeborene Kollegin dennoch ihren Ehemann nachholen, das heißt, sie hätte keine Behinderung beim Familiennachzug. Aber ich könnte das nicht, weil ich eingebürgerte Deutsche bin und es steht im Gesetzestext, dass, wenn den eingebürgerten Deutschen sprachlich und kulturell zumutbar ist, in einem anderen Land zu leben, können sie ihren Ehepartner nicht nachholen, sondern sollen in dem Herkunftsland des jeweiligen Ehepartners leben. Und das ist natürlich absolut nicht akzeptabel, weil da mir dann in dem Fall die Bürgerrechte letztlich abgesprochen werden.

Sagenschneider: Wie erklären Sie sich das, dass es dazu kommt?

Ünsal: Das ist wirklich eine der zentralen Fragen. Und ich denke einfach, es ist ein Unterschied in der Ursachenanalyse der Probleme, die wir ja jetzt haben, weil die Integrationspolitik der letzten 30, 40 Jahre, und das muss man auch ganz deutlich sagen, bestimmte Problemfelder aufgemacht hat. Wir haben zugespitzte Bereiche, wie auf dem Arbeitsmarkt, wir haben die Bildungsmisere, wir haben die Konzentration von Menschen einer bestimmten Herkunft in bestimmten Bezirken und diese Probleme, die entstanden sind, die werden von der Bundesregierung allein den Migranten oder den Minderheiten in die Schuhe geschoben. Und ich denke, das ist das Problem. Dass keine objektive, sachliche Ursachenanalyse gemacht wird, dass nicht geguckt wird, wie sind wir eigentlich dahin gekommen, diese Probleme auch zu haben, sondern es wird allein den Minderheitengruppen in Rechnung gestellt. Es heißt, die Menschen wollen sich nicht integrieren und da ist es natürlich ganz klar, also dann reagieren wir natürlich auch mit einer Sanktionspolitik und mit einer restriktiven Politik. Wir als Organisation lehnen das ab, weil wir sagen, Integration aber auch eben die Integrationsmisere ist gewachsen, leider, muss man sagen, auch durch die Fehler beider Seiten. Und das muss man auch als solche bewerten. Also, wir brauchen eine Politik des Förderns und des Forderns.

Sagenschneider: Wenn Sie nun sagen, fördern und fordern und es wird aber zu sehr auf Sanktionen gesetzt und zu wenig, das wäre ja dann die andere Variante, auf Motivation. Welche Art der Motivation und der Anreize würden Sie sich denn da wünschen?

Ünsal: Also, wir sind gar nicht gegen Fordern, sondern wir schon der Ansicht, es muss einen ganz klaren Rahmen geben und Menschen müssen auch Schritte auf die Mehrheitsgesellschaft zumachen. Aber unsere Erfahrungen sind, dass Anreizmodelle sehr viel besser funktionieren. Nehmen wir als Beispiel die Integrationskurse, die verpflichtend sind, die Menschen besuchen müssen, die nach Deutschland kommen. Wenn wir da zum Beispiel einen Anreiz schaffen würden, wenn wir sagen würden, okay, jemand, der erfolgreich diesen Integrationskurs besucht, kriegt einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt, also ich meine Arbeitserlaubnis, oder die Wartezeit auf die deutsche Staatsbürgerschaft wird ein Jahre gekürzt. Ich denke, das wären tatsächlich Anreize für die Menschen, um sich dann auch ganz aktiv in diesen Prozess einzubringen.

Sagenschneider: Haben Sie denn, Frau Ünsal, den Eindruck, dass im Vorfeld, dass die Regierung mit den Vertretern der türkischen Einwanderer ausreichend darüber diskutiert hat oder waren Sie von Beginn an eigentlich schon in der Debatte außen vor?

Ünsal: Die Enttäuschung ist ja deswegen riesengroß, weil zunächst der Anschein geweckt worden ist, wir würden tatsächlich in eine neue Ära eintreten. Das heißt, erstmals würden Migrantenverbände, Menschen mit Migrationshintergrund, aktiv in einen Politikentwicklungsprozess einbezogen. Also das war ja das Bild, das durch den Integrationsgipfel und durch den nationalen Integrationsplan vermittelt worden ist. Leider stellen wir jetzt nach einem Jahr fest, dass diese Versprechungen nur vordergründig gewesen sein müssen, da hinterrücks, parallel zu diesem ganzen Prozess, ohne jede Abstimmung mit den Minderheitengruppen, Gesetzesänderungen entwickelt und beschlossen wurden. Also, da darf man sich natürlich auch nicht wundern, dass dann die Migrantenverbände sich instrumentalisiert fühlen und sagen "also, einerseits entwickeln wir, wir sitzen zusammen am Tisch, wir finden gemeinsame Punkte, auf die wir uns einigen, und andererseits wird völlig an uns vorbei ein Gesetz gemacht, das völlig inakzeptabel ist".

Sagenschneider: Und trotzdem, ist es nicht strategisch unklug, sich jetzt ins Eck zu setzen und sich selbst auszuschließen und zu sagen "nö, dann boykottieren wir jetzt mal diesen Gipfel"?

Ünsal: Ich glaube, es geht im Moment gar nicht mehr um klug oder unklug, sondern es geht tatsächlich auch darum, dass die Migrantenverbände, lassen Sie es mich salopp formulieren, die Nase gestrichen voll haben. Ich denke, es geht darum, es wirklich auch mal deutlich zu machen, ja, dass es Grenzen hat und dass sich auch die Linie in der Integrationspolitik ändern muss. Natürlich ist es nicht so, dass die Migrantenverbände nun generell jeder Zusammenarbeit eine Absage erteilen, sondern es gibt ja auch Selbstverpflichtungen der Organisation und ganz klar wird ja auch gesagt, dass diese Selbstverpflichtungen eingehalten werden, dass die begonnenen Kampagnen weitergeführt werden. Das heißt, natürlich wird es Ebenen der Zusammenarbeit geben. Aber, jetzt an dieser Stelle finden wir es wichtig, einfach auch einmal deutlich zu machen, ja, wo wir stehen.

Sagenschneider: Diese Selbstverpflichtungen, die sie angesprochen haben, da sollen ja heute auf dem Integrationsgipfel rund 400 Selbstverpflichtungen beschlossen werden, die eben ganz unterschiedliche Felder betreffen wie Spracherwerb, Ausbildung, auch die Situation von Frauen. Worin besteht denn aus Ihrer Sicht der bisherige Erfolg all dieser Debatten, die wir ja geführt haben in den letzten Monaten?

Ünsal: Ich glaube, dass ein zentrales Erfolgskriterium überhaupt jeder Integrationspolitik ist, dass die Menschen sich ernstgenommen fühlen, also die Menschen, um die es geht, dass die Menschen das Gefühl haben, sie werden in den Prozess einbezogen, sie sind sozusagen selber auch verantwortlich für ihr eigenes Schicksal. Und das war tatsächlich wirklich das Positive, das wir zunächst aus diesem Prozess gezogen haben. Und das hat sich auch in die Gemeinden hinein, in die Communities hineingespiegelt. Wir sehen, es gibt Bewegung, es wurden Projekte begonnen, es wurden umfangreiche Kampagnen begonnen und wir haben bis sozusagen in die kleinsten Reihen hinein tatsächlich auch eine Bewegung, weil Menschen auf einmal das Gefühl haben, "wir sind doch Teil dieser Gesellschaft". Und das wird jetzt mit diesen Änderungen, mit dieser neuen Wende komplett wieder infrage gestellt. Plötzlich stehen die Menschen wieder außen vor und fragen sich "ja, was war das eigentlich?". Das war offensichtlich nur eine reine Showveranstaltung.

Sagenschneider: Und das heißt, Sie glauben schon, das könnte jetzt auch sehr negative Konsequenzen haben, dass da irgendwie weniger vorangeht als es andersrum gewesen wäre?

Ünsal: Ich kann mir das sehr gut vorstellen und ich finde es sehr wichtig, jetzt wirklich auch in der nächsten Zeit die richtigen Signale und die richtigen Zeichen zu setzen, weil, was ich jetzt so mitbekomme aus den Communities ist tatsächlich ein starker Rückzug, eine sehr große Enttäuschung und auch eine Resignation. Ich denke, wir dürfen es nicht soweit kommen lassen, dass die, die wir gewonnen haben, die, die wir aktiviert haben, sich wieder in ihr Schneckenhaus zurückziehen.

Sagenschneider: Eren Ünsal, die Sprecherin des Türkischen Bundes in Berlin im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Ich danke Ihnen, Frau Ünsal.

Ünsal: Ich danke auch.
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