Nahost-Konflikt

"Das Feld nicht den Scharfmachern überlassen"

Palästinenser fahren mit einem Motorrad entlang einer ausgestorbenen Straße im Gaza-Streifen.
Leben im Gaza-Streifen © AFP / THOMAS COEX
Torsten Reibold im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 22.07.2014
Oftmals zum ersten Mal in ihrem Leben bringt Givat Haviva Juden und Araber in Israel dazu, miteinander zu sprechen anstatt übereinander. Das Überwinden negativer Stereotype sei ein langer Prozess, sagt ihr Europa-Repräsentant, Torsten Reibold. Doch auch in der aktuellen Gaza-Krise breche der Dialog nicht ab.
Liane von Billerbeck: Wenn Raketen und Bomben abgeschossen werden, dann breitet sich zwischen den Konfliktparteien meist Schweigen aus. Aber könnte es nicht umgekehrt sein, dass man die Waffen zum Schweigen brächte, um miteinander zu reden? Diese Idee verfolgt die Initiative Givat Haviva - 1949 von der Kibbuz-Bewegung gegründet, die ja Freiheit und Gleichheit propagiert und dann aber einen Widerspruch feststellte zu der Ungleichheit zwischen jüdischen Israelis und Arabern.
Und so fing man bei Givat Haviva an, die Verständigung zu suchen. Und für dieses Engagement wurde die Organisation auch mehrfach ausgezeichnet. Wenn man miteinander redet und sich kennenlernt, am besten schon im Kindesalter, dann bekämpft man sich nicht, so das Motiv. Aber gilt dieses Prinzip auch in solchen Zeiten wie jetzt, wo aus Gaza Raketen auf Israel abgeschossen werden und die israelische Armee in Gaza eingerückt ist? Torsten Reibold soll mir diese Frage beantworten, er ist der Europa-Chef, könnte man sagen, von Givat Haviva. Guten Morgen, ich grüße Sie!
Torsten Reibold: Guten Morgen!
von Billerbeck: Jüdisch-arabischer Dialog, das klingt gut. Allein, wie funktioniert er bei Ihnen?
Reibold: Wir bringen in unseren Projekten jüdische und arabische Israelis zusammen. Wir geben ihnen die Möglichkeit, - oftmals zum ersten Mal in ihrem Leben - miteinander zu sprechen. Und wir tun das auf der Grundlage, dass beide die israelische Staatsbürgerschaft besitzen. 20 Prozent aller Israelis sind ja Araber und diese Araber besitzen formal wie faktisch die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten wie jeder andere Israeli auch. Auf dieser Grundlage bringen wir die Menschen zusammen und geben ihnen damit die Möglichkeit, auf Augenhöhe miteinander zu sprechen. Und zum ersten Mal in ihrem Leben oftmals wirklich miteinander, anstatt übereinander zu sprechen. Das ist die Grundlage unserer Arbeit und das ist die Grundlage für Dialog.
"Sehr offen und dankbar für solche Angebote"
von Billerbeck: Das klingt so simpel! Wie machen Sie das konkret, wie finden Sie die Leute, die Sie dann zusammenbringen, und wo finden Sie die?
Reibold: Wir finden diese Leute tatsächlich meistens vor unserer Tür. Givat Haviva ist ein kleiner Campus innerhalb Israels, er liegt im Norden, zwischen Tel Aviv und Haifa gelegen. Und dort befindet sich grundsätzlich schon mal eine sehr, sehr große arabische Siedlungsgemeinschaft. Also, in unserer direkten Nachbarschaft wohnen 250.000 Araber, israelische Araber, umgeben natürlich dann wiederum von größeren Gemeinschaften jüdischer Israelis. Das heißt, der Kontakt ist dort relativ schnell herzustellen.
Auf der anderen Seite wenden wir uns an Schulen, wir wenden uns an die Nachbargemeinden um Givat Haviva herum. Man ist dort normalerweise auch sehr, sehr offen und sehr, sehr dankbar für solche Angebote, sowohl auf der jüdischen als auch auf der arabischen Seite. Und durch die Tatsache, dass wir nun nicht erst seit gestern diese Arbeit machen und Givat Haviva auch nicht erst seit wenigen Jahren existiert, sind wir natürlich entsprechend bekannt, und dementsprechend wenden sich auch viele Organisationen, viele Einrichtungen, viele Schulen auch an uns, weil sie um die Arbeit Givat Havivas wissen und vor allen Dingen auch um den Wert dieser Arbeit.
von Billerbeck: Sie machen auch Arbeit mit Kindern. Man weiß ja, dass, gerade wenn Kinder so etwas lernen, dann lernen sie was fürs Leben. Und durch Reisen nach Israel – und ich erinnere mich auch an den Dokumentarfilm "Dancing in Jaffa", der zeigte, wie ein alter Tänzer arabische und jüdische Kinder zum gemeinsamen Tanzen brachte, die sich vorher noch niemals begegnet waren – weiß ich, dass das doch nicht so einfach ist. Wie konnten Sie bei Givat Haviva diese sichtbaren und unsichtbaren Mauern überwinden?
Reibold: Das Überwinden dieser Mauern ist ein Teil des Prozesses. Wir würden lügen, wenn wir behaupten, dass die Menschen, die zu uns kommen – jetzt mal abgesehen von der Tatsache, dass sie den Mut gefasst haben, sich mit der anderen Seite tatsächlich zu treffen, und das erfordert in solchen Fällen oftmals sehr, sehr viel Mut, weil man sich ja gar nicht kennt und weil man tatsächlich nur über Hörensagen voneinander weiß, und diese Dinge, die man hört, sind meistens sehr, sehr negative Stereotype …
Aber davon abgesehen ist es nicht so, dass wir diese Mauer nicht auch vor uns hätten oder diese Menschen diese Mauer nicht vor sich hätten, sie müssen sie selber einreißen. Ein Teil des Prozesses ist es tatsächlich, über die Krone dieser Mauer hinwegzuschauen und sie dann langsam abzutragen. Das ist etwas, was durchaus lange Zeit dauern kann, gerade bei Jugendlichen. Bei jüngeren Kindern - also jüngeren Jugendlichen im Alter von 13, 14, 15 Jahren - kann das ein Prozess sein, der über mehrere Monate gehen kann, weil man den entsprechend behutsam angehen muss.
"Akzeptieren, dass ein anderer Mensch anders denkt"
von Billerbeck: Wie machen Sie das konkret?
Reibold: Wir arbeiten zuerst mal mit ganzen Gruppen zusammen, das heißt, es sind meistens ganze Schulklassen, die wir miteinander verpaaren, eine jüdische und eine arabische Schulklasse. Auch hier muss man wiederum sehen, Juden und Araber haben einen eigenen Schulzweig oder Schulzug, das heißt, die sehen sich in der Schule normalerweise nicht, weil Juden auf jüdische Schulen gehen und Araber auf arabische Schulen. Wir bringen diese Schulen oder Klassen dann zusammen, wir begleiten sie auf einem Weg, der immer wieder abwechselnd eine uninationale und eine binationale Sitzung enthält.
Beide Gruppen werden dabei jeweils von einem jüdischen und arabischen Betreuer begleitet, den wir stellen. Das sind Menschen, die sich sehr, sehr stark spezialisiert haben auf interkulturelle Pädagogik, auf Konfliktpädagogik. Und wir lassen sie dann über einen Weg, der sie führt von den Fragen von Selbstverständnis - wer bin ich, wo komme ich her, was ist meine Stellung in meiner Gesellschaft, in meiner Kultur - hin zu Fragen dann, wie sehe ich den anderen, wo kommt er wohl her, Fragen, die ihn dazu auffordern, ein bisschen Empathie für den anderen zu entwickeln, langsam, aber sicher zu einem Punkt, wo man sich dann tatsächlich zum ersten Mal treffen kann. Und hier beginnen wir dann, zusammen mit diesen Jugendlichen diese Fragen noch mal zu stellen, diesmal allerdings im Dialog. Und spätestens da kommt es dann natürlich oftmals auch zu Situationen, wo es zu sehr, sehr heftigen Diskussionen kommen kann.
von Billerbeck: Was sind da zum Beispiel die Themen?
Reibold: Das sind dann beispielsweise Themen wie das Verständnis von Geschichte. Sie werden wissen, dass die jüdischen Israelis beispielsweise ein ganz anderes Verständnis von der Geschichte ihres Staates haben. Für sie ist zum Beispiel die Gründung des Staates ein Tag zum Feiern, der Unabhängigkeitstag wird in Israel sehr, sehr fröhlich begangen. Auf der anderen Seite sehen viele Araber in diesem Tag natürlich auch einen Tag der Niederlage, einen Tag, an dem Tatsache wurde, dass ein Staat, den sie eigentlich nicht wollten, auf einmal Teil ihrer Lebenswirklichkeit geworden ist, und sie nennen das Nakba, die Katastrophe.
Solche Ansichten, solche Sichtweisen muss man natürlich erst mal miteinander in Deckung bringen. Man wird feststellen, dass man die nicht in Deckung bringen kann. Wir bieten aber auch nicht für jedes Problem automatisch eine Lösung an. Aber wir bieten den Menschen an, dass sie die Gelegenheit bekommen können, miteinander darüber zu diskutieren und zu schauen, ob sie selber diese Lösung für sich finden können. Und wenn es nur ist, dass man das akzeptieren kann, dass ein anderer Mensch anders denkt.
"Da hat man sich auch schon mal angeschrien"
von Billerbeck: Nun ist das schon in Friedenszeiten nicht einfach. Wie ist das dann in jetzigen Zeiten, wenn da geschossen wird? Funktioniert das dann auch oder bricht dann dieser Dialog ab?
Reibold: Glücklicherweise bricht dieser Dialog nicht ab. Wir hatten bisher in den allermeisten Fällen, das heißt also, auch während früherer Operationen im Gazastreifen, aber auch während des zweiten Libanon-Krieges - ich war zu diesem Zeitpunkt auch in Israel; ich bin jetzt erst seit wenigen Jahren wieder, nach längerer Zeit in Israel nach Deutschland zurückgekehrt - und konnte das erleben. Wir hatten keine Situationen, in denen tatsächlich Projekte vollkommen abgebrochen sind. Natürlich kam es zu Situationen, in denen dann die Emotionen sehr, sehr stark nach oben gespült wurden, in denen sehr, sehr stark diskutiert wurde, da hat man sich auch schon mal angeschrien. Es ist auch mal ein Treffen geplatzt.
Aber wir hatten tatsächlich das Glück, dass mit dieser Arbeit und mit der Möglichkeit, die wir den Menschen geben, tatsächlich miteinander zu diskutieren und miteinander zu reden, sowohl Jugendliche als auch Erwachsene auch in Krisenzeiten die Möglichkeit genutzt haben das zu tun. Gerade in solchen Situationen ist es wichtig, dass man wieder miteinander spricht und dass man das Feld nicht den Scharfmachern überlässt. Und die haben Sie dort auf beiden Seiten. Auf der einen Seite sitzen sie in der Regierung, auf der anderen Seite sitzen sie meinetwegen im Parlament und heizen ein. Und man spricht aber auch dort nicht miteinander, sondern immer nur übereinander. Und wir geben auch da den Menschen die Gelegenheit, das zu tun.
Mittlerweile arbeiten wir auch nicht mehr nur mit Jugendlichen oder mit Menschen in der Graswurzelarbeit, sondern auch mit Politikern auf der lokalen Ebene. Und auch die nehmen diese Gelegenheit wahr, gerade jetzt darauf hinzuweisen, dass das Einhalten von Vernunft und das Durchatmen, bevor man etwas tut oder etwas sagt, sehr wichtig ist.
von Billerbeck: Torsten Reibold war das von der jüdisch-arabischen Initiative Givat Haviva über die Möglichkeiten von Verständigung auch während eines kriegerischen Konflikts. Ich danke Ihnen!
Reibold: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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