Nahles: "Wir müssen jetzt die Weichen stellen"
Die designierte stellvertretende SPD-Vorsitzende und Sprecherin der Partei-Linken, Andrea Nahles, hat die Diskussion über die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für Ältere innerhalb ihrer Partei verteidigt. Parteichef Kurt Beck suche einen Weg der Mitte, und das mache er gut, sagte Nahles. Korrekturen an der Agenda 2010 müssten erlaubt sein.
Deutschlandradio Kultur: Frau Nahles, mit wem würden Sie sich – wenn Sie die Wahl hätten – bei einem guten Glas Wein abends mal über die Zukunft der SPD unterhalten? Mit Franz Müntefering oder mit Kurt Beck?
Andrea Nahles: Momentan lieber mit Franz Müntefering.
Deutschlandradio Kultur: Und warum?
Weil ich glaube, wir würden daraus beide mehr Gewinn ziehen können. Mit Kurt Beck bin ich zurzeit auf derselben Seite am Schwingen und es macht mehr Sinn, mit jemandem zu reden, wo man noch Differenzen hat.
Deutschlandradio Kultur: Wie sehen die Differenzen aus?
Nahles: Ich glaube, dass Franz Müntefering sehr stark – und das ist auch seine Aufgabe – aus der Regierungslogik denkt und diese Große Koalition auch erfolgreich bis 2009 mit gestalten will. Was mich ärgert, ist, weil diese SPD als Partei auch ein stückweit eigenes Recht einverlangt, dass er dann sagt, ja, ihr wollt in die Opposition und ich in die Regierung. Ich glaube, das ist falsch. Ich möchte auch 2009 an die Regierung. Es ist die Frage: Wie, mit welchen Themen und wie muss man es machen?
Deutschlandradio Kultur: Aber wenn man sich diese zwei Pole anschaut, würden Sie sagen, die SPD steht vor einer Zerreißprobe, zumindest vor einem Richtungswechsel?
Nahles: Nein. Aber wir stehen vor Weichenstellungen. Das ist der letzte Parteitag vor 2009. Wir werden 2009 dann schon übers Regierungsprogramm reden. Deswegen müssen wir jetzt schon auch neu die Weichen stellen. Das ist es. Es ist weder rückwärtsgewandte Abkehr, noch ist es ein Richtungswechsel oder eine Zerreißprobe, aber eine gewisse Flurbereinigung, um dann auch in die nächsten fünf Jahre starten zu können.
Deutschlandradio Kultur: Ist es dann bloß ein Gerücht, dass man der SPD unterstellt, sie will zurück in die Opposition, sie fühlt sich da wohler als beim Regieren?
Nahles: Ja, das halte ich total für verrückt. Die SPD hat momentan die dringende Notwendigkeit, in der Bundesregierung mit gestalten zu können. Warum? Weil wir in den Ländern so schwach sind. Wir haben sehr viele Länder verloren. Und ich glaube, das wäre für die SPD nicht gut, wenn wir auch noch auf der Bundesebene in die Opposition kommen. Deswegen fühle ich mich da auch falsch verstanden, und ich glaube, das geht den meisten in der SPD so. Im Gegenteil, die Frage ist doch: Wenn wir seit Monaten unter 30 % sind, wie kommen wir wieder dick über 30 %, mit welchen Themen?
Ein Thema ist ein gemeinsames Thema von allen in der SPD. Das ist der Mindestlohn, weil das die Leute unterstützen. Aber es gibt sicher auch noch bei anderen Themen den Bedarf. Wie gehen wir mit Leiharbeit um? Das ist z.B. etwas, wo ich im Moment drüber arbeite. Mit anderen Worten: Wir müssen uns anstrengen. Sonst werden wir unser Ziel, in der Regierung zu verbleiben oder die sogar wieder mit einem Kanzler zu stellen, nicht erreichen können.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, Sie müssen sich anstrengen. Sie müssen die Weichen neu stellen. In welche Richtung muss es gehen? Muss die SPD wieder ein Stück nach links rücken, damit wieder Mehrheiten zustande kommen oder zumindest Zahlen, die deutlich über 30 % sind? In den Umfragen liegen Sie deutlich abgeschlagen im Moment.
Nahles: Ich glaube, die SPD hat ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn sie nicht die Leute ernst nimmt. Die haben sich an ein, zwei Punkten sich vor den Kopf gestoßen gefühlt. Das hat was mit Ernstnehmen zu tun, nicht so sehr mit links oder rechts. Das ist bei dem Thema Rente 67 so gewesen. Ich verteidige diese Weichenstellung von der Großen Koalition. Ich glaube, die ist notwendig. Aber es kann nicht jeder bis 67 arbeiten. Deshalb müssen wir auch Angebote für die machen, die wirklich kaputt sind. Das ist die Krankenschwester genauso wie der Lehrer oder der Maurer. Mein Vater ist selber 45 Jahre am Bau gewesen. Insoweit denke ich manchmal eher, dass es auch um die Frage geht, dass man den Leuten vermittelt: Hey, wir nehmen eure Situation ganz konkret wahr, nehmen sie ernst und bieten dafür auch Lösungen an.
Die CDU ist unser Hauptgegner und nicht die Linkspartei. Das meine ich ganz im ernst. Wenn wir an die Regierung wollen, müssen wir uns auf die konzentrieren. Wenn die sich dann als "Sozialdemokratie light" gebärden, wie sie es in den letzten Monaten getan haben, es dann aber in der konkreten Arbeit im Bundestag nicht tun, sondern uns da behindern, wo es nur geht, wenn es um mehr soziales Profil geht, dann müssen wir das auch deutlich machen, dass wir mehr wollen als die CDU, gerade bei sozialen Fragen.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie haben sich doch von Jürgen Rüttgers, dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten, in die Falle locken lassen. Er will ja nur darstellen, dass die SPD in der Vergangenheit Murks gebaut hat und hat Ihnen quasi das Arbeitslosengeld-I-Thema aufgedrückt, hat Ihnen die Frage aufgedrückt, ob man nicht die Hartz-Gesetze nachbessern muss. Und Sie machen das jetzt auch.
Nahles: Wir schießen den Ball einfach wieder ins andere Feld, und zwar deswegen, weil der Vorschlag von Rüttgers total ungerecht ist. Er ist überhaupt nicht umsetzbar. Wir machen einen besseren Vorschlag. Das nenne ich Pingpong. Und wir sind jetzt wieder beim Pong und ich bin gespannt, ob noch mal was zurückkommt.
Meint es die CDU tatsächlich ernst? Wenn sie sagt, sie will den Älteren länger Arbeitslosengeld geben, sagt sie gleichzeitig, jetzt nehmen wir aber das Geld von den Jüngeren und von den Frauen, also von denen, die nicht so lange in einer Erwerbstätigkeit sind, sondern häufiger wechseln müssen oder auch häufiger arbeitslos sind. Das finde ich ungerecht. Und wir sagen: Die BA hat momentan den Spielraum. Wir können zusätzlich Älteren ein Jahr länger Arbeitslosengeld I geben. Also, das halte ich schon für einen großen Unterschied.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie von "wir" sprechen, von wem reden Sie da eigentlich? Da gibt es den Herrn Beck, den Herrn Müntefering und die haben unterschiedliche Vorstellungen. Spricht die SPD in dieser Frage überhaupt mit einer Stimme?
Nahles: Nein, sie spricht offensichtlich nicht mit einer Stimme. Das kann ja jeder hören momentan. Ich finde das aber auch nicht so schlimm. Wir haben uns keine Zeit gelassen, nach 2005, wir haben den Kanzler verloren, sind aber trotzdem noch in der Regierung, mal zu überlegen, wie wir uns da jetzt die nächsten Jahre ausrichten. Ich denke, es ist besser, wir unterhalten uns jetzt 2007 vor einem großen Parteitag der SPD über so eine Frage, als dass wir das mitten im Wahlkampf 2009 tun würden. Es ist jetzt eine Phase, wo man sich auch mal auseinandersetzen muss und auch mal um den richtigen Weg ringen muss. Ich finde es nicht schlimm. Es sollte natürlich nicht die nächsten zwei Jahre anhalten, sondern es sollte möglichst auf dem Parteitag dann auch zu einer Lösung führen. Das heißt, man muss es dann entscheiden.
Deutschlandradio Kultur: Aber es geht dabei doch auch um ein wichtiges Prinzip. Es geht um das Kernprinzip der Arbeitsmarktreform, nämlich schneller zu vermitteln und auch älteren Arbeitnehmern nicht über eine lange Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes in die Zeit hinein zu schieben, sondern schneller wieder in den Arbeitsmarkt zu bringen. Die Botschaft, die Sie da senden mit einem längeren Arbeitslosengeld ist doch eine ganz andere.
Nahles: Ich muss ganz ehrlich sagen, wir sind sehr erfolgreich damit. Wir sind schneller beim Vermitteln. Das haben wir der Agenda 2010 und ihren Reformen, nämlich der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und auch einer – sagen wir mal – Neuaufstellung der BA zu verdanken. Wir haben es auch verhindert, dass es eine Frühverrentungskette gibt. Dahin gehen wir mit unserem Vorschlag auch nicht zurück, und zwar deswegen, weil man aus Arbeitslosigkeit jetzt nicht mehr mit 60, sondern erst mit 63 in Rente gehen kann. Selbst wenn wir jetzt den Älteren länger Arbeitslosengeld I geben, weil sie lange eingezahlt haben und weil es ein stückweit für Ältere auch schwieriger ist, einen Arbeitsplatz zu finden, ist trotzdem diese Kette – 32 Monate und dann gehen wir in die Frühverrentung oder in den Vorruhestand – unterbrochen.
Deutschlandradio Kultur: Noch mal gefragt: Das Signal ist anders. Sie sagen praktisch: Ab 45 Jahren gehört man zum alten Eisen. Das ist das alte Urteil, das Menschen über sich selbst haben, während man ja eigentlich in der Arbeitsmarktreform sagen wollte: Alte Menschen, junge Menschen haben die gleichen Chancen oder sollten sie am Arbeitsmarkt haben.
Nahles: Ja. Das eine ist das Ziel. Ich glaube, wir haben durch Programme wie 50plus, aber auch durch mehr Weiterbildungsmöglichkeiten, die jetzt in der Großen Koalition auch noch in den nächsten Monaten vorgelegt werden, die Weichen schon in die richtige Richtung gestellt, auch in der ganzen Rentenpolitik der letzten Jahre. Das Ziel ist aber immer noch nicht die Realität. Ich habe eine Bürgersprechstunde jede Woche und da kommen die Leute. Und die sind dann 45, 47 oder 50 und dann ist es nicht so, dass sie dieselben Möglichkeiten haben und sie empfinden es als schieres Unrecht, dass sie nach einem Jahr auf dasselbe Niveau fallen, obwohl sie vielleicht 25, 30 Jahre einbezahlt haben. Insoweit muss man an dem Ziel länger – länger in Arbeit, wir brauchen auch die Facharbeiter – festhalten. Das tun wir. Ich sage aber gleichzeitig: Man muss nicht die Leute den Realitäten anpassen, sondern man muss auch die Realitäten, die wir politisch gestalten, der realen Situation der Menschen ein stückweit anpassen und denen gerecht werden.
Deutschlandradio Kultur: Es ist aber schon interessant, dass Sie Arbeitslosengeld I verlängern wollen und nicht sagen, was Sie früher mal gesagt haben: Wir nehmen das Geld der Bundesagentur und versuchen beispielsweise die Kosten bei der Krankenversicherung zu reduzieren oder die Beiträge für das Arbeitslosengeld zu reduzieren, damit wir schneller Leute wieder reinkriegen, damit Arbeit günstiger ist, damit mehr Menschen Beschäftigung haben. Mit dieser Verlängerung der Bezüge schaffen Sie keinen Effekt auf dem Arbeitsmarkt.
Nahles: Erst mal glaube ich, dass wir beides machen können. Wir sind in einer relativ komfortablen Lage. Wir können die Arbeitslosenbeiträge weiter absenken. Wir haben sie schon abgesenkt. Zweitens ist es so, dass ich mich dagegen wehre, dass aus einem kleinen Schritt, Arbeitslosengeld I für Ältere um ein Jahr zu verlängern, Revironment gemacht wird, auch teilweise – ehrlich gesagt – auch von Kommentaren aus meiner eigenen Partei, der gesamten Logik der Agenda 2010, der Reformen der letzten Jahre. Und insoweit bitte ich einfach ein bisschen, das Instrument jetzt nicht zu dramatisieren oder in seiner Bedeutung exorbitant auszudehnen. Mehr als ein kleiner Korrekturschritt ist es aus meiner Sicht nicht.
Deutschlandradio Kultur: So sieht es auch Franz Müntefering?
Nahles: Da kommen wir wieder zu dem Punkt: Ja, wir sehen es momentan noch nicht gleich. Das ist aber ein großes Geheimnis. Ich sage ganz offen: Jemand, der für diese Agenda-2010-Politik an erster Stelle geprügelt wurde, wie Gerhard Schröder und Franz Müntefering, auch übrigens von Frau Merkel und der CDU, die sich jetzt in den Ergebnissen sonnen, dem fällt es sicherlich schwerer als mir, die ich von Anfang an gesagt habe, hey, diesen Punkt – ich habe die Agenda auch mit getragen – halte ich eher für falsch. Ist doch klar, dass das einfach auch noch mal eine andere Situation ist. Da verstehe ich den Franz Müntefering auch.
Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir weitergehen müssen. Wir können nicht zurück gucken. Die Agenda 2010 wurde 2003 beschlossen und wir reden jetzt über 2009 ff. Insoweit bin ich wirklich der Meinung: nach vorne gucken und auch ein bisschen verändern dürfen, das muss drin sein, Franz.
Deutschlandradio Kultur: Noch mal auf die Agenda 2010 zurückkommend, von der Sie auch geredet haben: Es ist interessant, dass in den Medien in den letzten Wochen und Monaten viel über die Aufarbeitung geredet wird. Die SPD versucht das auch. Gelingt es ihr im Moment auch, diese Schröder-rot-grüne Zeit so aufzuarbeiten, damit man sie auch weiterentwickeln kann? Oder haben Sie das Gefühl, da gibt es im Moment tatsächlich Beharrungskräfte, die den Schröder und die ganze Zeit auf einen Sockel stellen – Stichwort Steinbrück u.a. – und deshalb dieses Ding nicht antasten wollen?
Nahles: Ich glaube, das kann uns gelingen. Wir sind noch nicht genau auf dem Punkt gelandet, aber selbst Gerhard Schröder kann da eine große Rolle spielen. Er kommt auch zum Parteitag. Ich glaube, er ist da bereit zu helfen, dass man das, was geleistet wurde, selbstbewusst auch mit in die Zukunft nimmt, aber jetzt trotzdem da nicht stehen bleibt. Es wäre auch eine Hoffnung, die ich habe, dass das auf dem Parteitag gelingt, eben diese beiden Sachen zu schaffen: einen Aufbruch, auf der anderen Seite aber auch ein selbstbewusster Umgang mit dem, was wir die letzten Jahre in der Regierungsverantwortung gemacht haben.
Deutschlandradio Kultur: Aber man muss auch Wunden lecken. Sie haben unendlich viele Wähler verloren, Parteiaustritte, die Gewerkschaften sind auf Distanz gegangen. Warum redet keiner offen über diese Fragen, so dass man in die Zukunft gehen kann. Bei Beck hat man in etwa den Eindruck, er sagt, ja, das war irgendwie in Ordnung und dann doch nicht, also, wasch mich, aber mach mich nicht nass. Und irgendwie kommen wir jetzt in die Zukunft, ohne das Alte noch mal richtig aufzuarbeiten. Den Eindruck haben Sie nicht?
Nahles: Wissen Sie, Kurt Beck ist ja jetzt auch in der Situation, dass er den Laden da zusammenhalten muss. Und es gibt unterschiedliche Bewertungen darüber. Deswegen versucht er natürlich den Weg der Mitte zu finden. Ich glaube, das macht er ganz gut momentan und er kriegt auch breite Unterstützung dafür. Ich selber spreche es aber offen aus: Es ist nicht möglich, einfach ein Bekenntnis zur Agenda 2010 abzulegen, weil es janusköpfig ist. Es ist ambivalent. Es wird bei den Leuten an der Basis auch so gesehen. Die jubeln auch dem Gerhard Schröder zu, z.B. auf dem Landesparteitag in Hamburg, weil sie stolz darauf sind, weil sie auch immer noch den Schmerz haben, dass wir keinen Kanzler mehr stellen. Und sie wollen das auch bejubeln. Auf der anderen Seite gucken sie dann abends in ihre Reihen – oh, wir sind ein Drittel weniger geworden in unserem Ortsverein. Und das haben wir eben auch dieser Reformpolitik – in Anführungsstrichen – zu verdanken.
Ich finde, man muss auch diese Ambivalenz zugeben und muss das auch offen ansprechen. Nur so kann man das auch überwinden, dass wir da stecken bleiben…
Deutschlandradio Kultur: Aber da sind Sie doch in einer Minderheit in der offenen Aufarbeitung.
Nahles: Nö, ich glaube nicht. Ich habe den Steinmeier in den letzten Tagen auch so verstanden, dass er das auch so sieht. Ich glaube, dass auch Peer Steinbrück weiß, ich habe ja jetzt öfter mit den beiden zu tun, dass man nicht mehr mit derselben Politik wie 2003 jetzt arbeiten muss. Warum? Wir haben nicht mehr eine Wirtschaftskrise, sondern wir haben eine gute Situation. Es hat sich auch Gott sei Dank eine Menge verändert. Und ich habe das Gefühl, dass er das auch so sieht, dass es da andere Bewertungen gibt und dass einige stolz sind und die anderen weniger. Ja.
Deutschlandradio Kultur: Ich finde das ja nicht unsympathisch, wie Sie antworten, aber Sie kommen ein bisschen zahm daher. Sie wollen stellvertretende Parteivorsitzende werden. Sie werden das erklärtermaßen als Sprecherin der Linken. Was soll sich denn da ändern, wenn Sie in dieser Rolle in den Parteivorstand eintreten?
Nahles: Ich bin nicht zahm, sondern ich versuche das zu sagen, was ich für richtig halte. Für richtig halte ich nicht, die SPD auseinander zu treiben und zu spalten, sondern die Probleme, die es mit diesem Prozess Agenda 2010 gibt, ehrlich zu benennen. Aber auch ich möchte eigentlich nicht, dass die Linken, die damit in den letzten Jahren mehr Probleme hatten als andere, in der Vergangenheit verharren. Ich würde die gerne auch mitnehmen. Ich möchte einfach, dass wir von dieser Bekenntnisrhetorik wegkommen, die im Prinzip leer ist. Was ist denn das: Wir sind stolz auf die Agenda 2010? Ha? Da sage ich mal, das ist gar nix. Wir sollten mal lieber wieder über Politik reden, als über irgend so einen Krempel.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie haben einen Grundsatzparteitag. Und dann geht es auch darum, dass man ganzheitliche Ideen entwickelt, Leuchttürme irgendwohin stellt, wo die Partei mitgeht und sagt: Ja, da wollen wir hin. Ist das erkennbar? Wo ist das? Und ist das künftig links? Sind Sie das?
Nahles: Hallo! Lesen Sie mal das neue Grundsatzprogramm der SPD.
Deutschlandradio Kultur: Da steht "demokratischer Sozialismus" drin.
Nahles: Ich sage Ihnen: Der demokratische Sozialismus ist ein wichtiger kleiner Punkt für unsere Selbstvergewisserung. Da steht viel mehr drin. Ich darf das so sagen, weil ich mit Wolfgang Thierse und Hubi Heil den ganzen Sommer dafür aufgewandt habe.
Deutschlandradio Kultur: Das können wir jetzt nicht vorlesen, aber nennen Sie uns mal die Richtung, wo Sie sagen: Da marschiert die neue SPD hin. Die ist anders als die des Gerhard Schröder. Wir machen was Neues und ihr könnt alle mitgehen, weil es sich lohnt für die Partei zu arbeiten.
Nahles: Ich finde, dass das Europakapitel, das da formuliert wurde, eine Vision hat, was momentan keine anderen sozialdemokratischen Parteien vorweisen können. Wir fordern einen sozialen Stabilitätspakt, nicht nur einen Beschäftigungs- und Wachstumspakt. Ich glaube, dass wir auch sagen, wir wollen, dass es ein Europa gibt, das eine echte Regierung mit einer echten Demokratie wird und trotzdem föderal ist. Also, richtig gut, Vision. Da steckt Potenzial drin, das wir im Übrigen in den ersten Schritten auch schon im nächsten Regierungsprogramm verarbeiten können.
Deutschlandradio Kultur: Und da finden sich alle – die Steinmeiers, die Steinbrücks, die Nahles, alle finden sich unter diesem Dach und sagen, das ist das Gemeinsame, was wir machen wollen?
Nahles: Ich habe das so empfunden, dass das eines der wirklich seltenen Konsensprojekte der letzten Jahre gewesen ist. Ich glaube, das hat auch ein stückweit versöhnt. Wir reden jetzt zwar schon in der Vergangenheitsform, das Ding muss noch über den Parteitag und da muss man als Führung in der SPD immer noch ein bisschen Muffen haben, weil das weiß man nicht genau. Aber die Rückmeldungen sind sehr positiv. Ja. Sagen wir es mal so: Es könnte echt ein Lagerfeuer sein.
Deutschlandradio Kultur: Halten wir noch mal fest: Es ging unter der Schröder-Ära um die deutschen Reformen nach innen. Jetzt geht es um das soziale Europa. Das könnte das neue Schlagwort sein.
Nahles: Nein, es geht darum, dass wir auch mal klarstellen müssen, dass die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, Deregulierung, Druck auf die Löhne, nicht von der Agenda 2010 kommen, das behauptet immer die Linkspartei, sondern das kommt daher, dass wir eine globale Konkurrenz um Arbeit mittlerweile haben, dass wir Finanzmärkte haben, die den Unternehmen ihren Takt aufzwingen. Dieses, Schröder ist an allem schuld, das stimmt doch überhaupt gar nicht. Und es ist deswegen wichtig, dass wir gesagt haben: Woran liegt es und was müssen wir eigentlich dagegen tun? Und dann ist dieses, wir gehen zurück in den Nationalstaat und den Sozialstaat der 70er, 80er Jahre, einfach zu kurz gesprungen.
Deutschlandradio Kultur: Gehen wir mal davon aus, dass es mit Hilfe dieses Grundsatzprogramms der Partei gelingt, möglicherweise wieder deutlich über die 30 % zu kommen. 50 werden es wahrscheinlich nicht werden. Deshalb stellt sich immer die Frage nach den Machtoptionen. Sie grenzen sich ziemlich deutlich von der Linken ab. Das haben Sie in den 80er Jahren, nicht Sie persönlich, aber Ihre Partei, auch mit den Grünen gemacht. Später gab es dann einen grünen Vizekanzler Joschka Fischer – wir wissen es. Wie lange geht dieses Spiel noch, dass man sich von den Linken abgrenzt? Oder kommt der Punkt, wo man sagt, o.k., die sind da, wir müssen mit denen zusammenarbeiten, weil es ja eine linke Mehrheit innerhalb dieses Landes möglicherweise gibt.
Nahles: Bin ich Jesus? Weiß ich, ob es 2012 so einen Punkt gibt? Ich kann nur sagen: Ich war noch vor einer Woche entsetzt über die Rede von Gregor Gysi zum Thema Afghanistan. Da habe ich gemerkt, o.k., das wird auf absehbare Zeit leider nix auf der Bundesebene. Das kann man machtpolitisch bedauern. Politisch-inhaltlich ist es aber zurzeit nicht möglich. Auf der anderen Seite regieren wir mit der Linkspartei ja auch schon und ich kann mir durchaus vorstellen, dass das in Thüringen z.B. eine weitere Koalition geben kann. Aber insgesamt auf der Bundesebene halte ich das auf absehbare Zeit für ausgeschlossen. Ich habe mich wirklich gefragt: Warum ist das so? Aber ich glaube, dass die Linkspartei jetzt in ihrer neuen Formation tatsächlich eher den Schritt zurück gemacht hat in so eine Sammelbewegung für linke radikale Gruppen. Momentan sind wir weiter entfernt als noch vor ein paar Jahren.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie sind, um noch mal das Klischee zu bedienen, die linke Frontfrau. Sie müssten sich ja eigentlich überlegen, wie kriege ich wieder die Linken zur SPD hinüber? Teilweise sitzen sie bei Attac, teilweise sind sie, wenn sie mittelalterlich sind, bei den Grünen gelandet. Wie kriegen Sie sie rüber, weil Sie ja künftig auch Koalitionen bilden wollen? Aber mit wem dann?
Nahles: Ja, durch Politik, sonst nix. Ich glaube nicht, dass man durch Geifern auf irgendwelche Machtoptionen oder Koalitionen die SPD stärken kann. Ich kämpfe nicht für die Linke abstrakt, sondern ich bin Sozialdemokratin und ich möchte deswegen klipp und klar, dass die Linken möglichst wenig Unterstützung finden, sondern sich möglichst viele für die SPD entscheiden können. Dafür brauchen wir tatsächlich politisch noch Angebote, die wir jetzt gerade auch entwickeln. Das war in den letzten Jahren nicht immer einfach, sonst wären die Linken nicht so stark geworden. Andererseits glaube ich, dass sich die Situation verbessert hat, dass insgesamt auch der Kurt Beck z.B. eine ganz klare Orientierung macht, um einen Schulterschluss mit den Gewerkschaften zu organisieren. Das betreibt er sehr systematisch und wir haben da aus meiner Sicht auch schon einige Erfolge erreicht. Wir bearbeiten das aber nicht im Hinblick auf Nachlaufen. Wir sind nicht souverän, wenn wir irgendwem hinterher laufen.
Deutschlandradio Kultur: Aber was machen Sie denn, wenn z.B. in zwei Jahren Ihr Parteifreund Heiko Maas im Saarland Ministerpräsident werden könnte, und zwar mit Stimmen der Linken? Darf der sich das dann leisten? Darf er sich dann von den Linken wählen lassen?
Nahles: Ich kenne Heiko Maas sehr gut. Das ist ein Freund von mir. Ich war Juso-Landesvorsitzende in Rheinland-Pfalz. Da war er Juso-Landesvorsitzender an der Saar. Solange kennen wir uns schon. Und ich glaube, er wird das dann weise entscheiden.
Deutschlandradio Kultur: Dahinter steht die Frage: Suchen Sie nach gemeinsamen Schnittmengen mit der Linken? Oder sagen Sie, Abgrenzung ist die Devise, wir wollen mit denen einfach nichts zu tun haben?
Nahles: Wir wollen mit denen einfach nix zu tun haben, ist ja eine alberne Position. Das Kind stellt sich in die Ecke und schmollt. Das ist ja Unsinn. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich bin froh, dass wir den Quark, den wir da im Sommer hatten, Bashing in der Öffentlichkeit, Beschimpfungen aller Art, hinter uns gelassen haben. Lassen Sie uns lieber über Alg I streiten als über sonst was.
Deutschlandradio Kultur: Aber man muss doch das Ziel sehen. Es könnte ja gut sein, dass Sie ehrlich und bewusst in die Opposition marschieren müssen nach 2009. Genauso gut könnte es sein, darauf hat Steinmeier hingewiesen, dass Sie sich in der Großen Koalition wieder sehen. Das sind doch eigentlich zwei recht unterschiedliche Konzepte. Wie will man die heute programmatisch schon vorweg nehmen, wenn man schon heute weiß, in der Großen Koalition sind die Gemeinsamkeiten endlich?
Nahles: Bei einem Fünfparteiensystem, was wir wahrscheinlich auch 2009 haben, ist das mit dem Vorher-schon-auf-eine-spezielle-Koalition-schielen fast nicht mehr möglich. Deswegen muss man eigentlich mehr das Profil der eigenen Partei stärken.
Deutschlandradio Kultur: In drei Wochen ist es dann soweit. Sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit zur Vize-Vorsitzenden der SPD gewählt, ein gewichtiges Amt. Jetzt gibt es Freunde von Ihnen, die sagen: Die Nahles stellt sich irgendwohin und schon kommandiert sie den Laden. Haben Ihre Freunde recht?
Nahles: Oh, wenn man solche Freunde hat. Ich bin schon so ein bisschen der Typ, auch in der Schule, klar, Schülerzeitung gemacht, da war ich natürlich Chefredakteurin irgendwie innerhalb kürzester Zeit. Oder ich gründe zusammen mit Freunden einen Ortsverein – war ich natürlich Ortsvereinsvorsitzende. Ich habe halt die große Klappe und ich habe keine Angst, jedenfalls weniger Angst als andere Leute, habe ich festgestellt, also z.B. vor einem großen Publikum zu reden oder so was, oder einfach Angst, sich eine blutige Nase einzufangen, eine Niederlage zu haben. Das ist das, was mich vielleicht manchmal dann in diese Rollen bringt. Ich habe darüber auch schon nachgedacht. Was ist das eigentlich? Das sind die beiden wesentlichen Sachen – große Klappe und keine Angst.
Deutschlandradio Kultur: Wie lange wird es dauern, bis die SPD nachzieht und eine Kanzlerkandidatin aufstellt?
Nahles: Wie alt bin ich denn jetzt?
Deutschlandradio Kultur: 37 – okay, Frau Nahles, herzlichen Dank für das Gespräch.
Nahles: Bitte.
Andrea Nahles: Momentan lieber mit Franz Müntefering.
Deutschlandradio Kultur: Und warum?
Weil ich glaube, wir würden daraus beide mehr Gewinn ziehen können. Mit Kurt Beck bin ich zurzeit auf derselben Seite am Schwingen und es macht mehr Sinn, mit jemandem zu reden, wo man noch Differenzen hat.
Deutschlandradio Kultur: Wie sehen die Differenzen aus?
Nahles: Ich glaube, dass Franz Müntefering sehr stark – und das ist auch seine Aufgabe – aus der Regierungslogik denkt und diese Große Koalition auch erfolgreich bis 2009 mit gestalten will. Was mich ärgert, ist, weil diese SPD als Partei auch ein stückweit eigenes Recht einverlangt, dass er dann sagt, ja, ihr wollt in die Opposition und ich in die Regierung. Ich glaube, das ist falsch. Ich möchte auch 2009 an die Regierung. Es ist die Frage: Wie, mit welchen Themen und wie muss man es machen?
Deutschlandradio Kultur: Aber wenn man sich diese zwei Pole anschaut, würden Sie sagen, die SPD steht vor einer Zerreißprobe, zumindest vor einem Richtungswechsel?
Nahles: Nein. Aber wir stehen vor Weichenstellungen. Das ist der letzte Parteitag vor 2009. Wir werden 2009 dann schon übers Regierungsprogramm reden. Deswegen müssen wir jetzt schon auch neu die Weichen stellen. Das ist es. Es ist weder rückwärtsgewandte Abkehr, noch ist es ein Richtungswechsel oder eine Zerreißprobe, aber eine gewisse Flurbereinigung, um dann auch in die nächsten fünf Jahre starten zu können.
Deutschlandradio Kultur: Ist es dann bloß ein Gerücht, dass man der SPD unterstellt, sie will zurück in die Opposition, sie fühlt sich da wohler als beim Regieren?
Nahles: Ja, das halte ich total für verrückt. Die SPD hat momentan die dringende Notwendigkeit, in der Bundesregierung mit gestalten zu können. Warum? Weil wir in den Ländern so schwach sind. Wir haben sehr viele Länder verloren. Und ich glaube, das wäre für die SPD nicht gut, wenn wir auch noch auf der Bundesebene in die Opposition kommen. Deswegen fühle ich mich da auch falsch verstanden, und ich glaube, das geht den meisten in der SPD so. Im Gegenteil, die Frage ist doch: Wenn wir seit Monaten unter 30 % sind, wie kommen wir wieder dick über 30 %, mit welchen Themen?
Ein Thema ist ein gemeinsames Thema von allen in der SPD. Das ist der Mindestlohn, weil das die Leute unterstützen. Aber es gibt sicher auch noch bei anderen Themen den Bedarf. Wie gehen wir mit Leiharbeit um? Das ist z.B. etwas, wo ich im Moment drüber arbeite. Mit anderen Worten: Wir müssen uns anstrengen. Sonst werden wir unser Ziel, in der Regierung zu verbleiben oder die sogar wieder mit einem Kanzler zu stellen, nicht erreichen können.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, Sie müssen sich anstrengen. Sie müssen die Weichen neu stellen. In welche Richtung muss es gehen? Muss die SPD wieder ein Stück nach links rücken, damit wieder Mehrheiten zustande kommen oder zumindest Zahlen, die deutlich über 30 % sind? In den Umfragen liegen Sie deutlich abgeschlagen im Moment.
Nahles: Ich glaube, die SPD hat ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn sie nicht die Leute ernst nimmt. Die haben sich an ein, zwei Punkten sich vor den Kopf gestoßen gefühlt. Das hat was mit Ernstnehmen zu tun, nicht so sehr mit links oder rechts. Das ist bei dem Thema Rente 67 so gewesen. Ich verteidige diese Weichenstellung von der Großen Koalition. Ich glaube, die ist notwendig. Aber es kann nicht jeder bis 67 arbeiten. Deshalb müssen wir auch Angebote für die machen, die wirklich kaputt sind. Das ist die Krankenschwester genauso wie der Lehrer oder der Maurer. Mein Vater ist selber 45 Jahre am Bau gewesen. Insoweit denke ich manchmal eher, dass es auch um die Frage geht, dass man den Leuten vermittelt: Hey, wir nehmen eure Situation ganz konkret wahr, nehmen sie ernst und bieten dafür auch Lösungen an.
Die CDU ist unser Hauptgegner und nicht die Linkspartei. Das meine ich ganz im ernst. Wenn wir an die Regierung wollen, müssen wir uns auf die konzentrieren. Wenn die sich dann als "Sozialdemokratie light" gebärden, wie sie es in den letzten Monaten getan haben, es dann aber in der konkreten Arbeit im Bundestag nicht tun, sondern uns da behindern, wo es nur geht, wenn es um mehr soziales Profil geht, dann müssen wir das auch deutlich machen, dass wir mehr wollen als die CDU, gerade bei sozialen Fragen.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie haben sich doch von Jürgen Rüttgers, dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten, in die Falle locken lassen. Er will ja nur darstellen, dass die SPD in der Vergangenheit Murks gebaut hat und hat Ihnen quasi das Arbeitslosengeld-I-Thema aufgedrückt, hat Ihnen die Frage aufgedrückt, ob man nicht die Hartz-Gesetze nachbessern muss. Und Sie machen das jetzt auch.
Nahles: Wir schießen den Ball einfach wieder ins andere Feld, und zwar deswegen, weil der Vorschlag von Rüttgers total ungerecht ist. Er ist überhaupt nicht umsetzbar. Wir machen einen besseren Vorschlag. Das nenne ich Pingpong. Und wir sind jetzt wieder beim Pong und ich bin gespannt, ob noch mal was zurückkommt.
Meint es die CDU tatsächlich ernst? Wenn sie sagt, sie will den Älteren länger Arbeitslosengeld geben, sagt sie gleichzeitig, jetzt nehmen wir aber das Geld von den Jüngeren und von den Frauen, also von denen, die nicht so lange in einer Erwerbstätigkeit sind, sondern häufiger wechseln müssen oder auch häufiger arbeitslos sind. Das finde ich ungerecht. Und wir sagen: Die BA hat momentan den Spielraum. Wir können zusätzlich Älteren ein Jahr länger Arbeitslosengeld I geben. Also, das halte ich schon für einen großen Unterschied.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie von "wir" sprechen, von wem reden Sie da eigentlich? Da gibt es den Herrn Beck, den Herrn Müntefering und die haben unterschiedliche Vorstellungen. Spricht die SPD in dieser Frage überhaupt mit einer Stimme?
Nahles: Nein, sie spricht offensichtlich nicht mit einer Stimme. Das kann ja jeder hören momentan. Ich finde das aber auch nicht so schlimm. Wir haben uns keine Zeit gelassen, nach 2005, wir haben den Kanzler verloren, sind aber trotzdem noch in der Regierung, mal zu überlegen, wie wir uns da jetzt die nächsten Jahre ausrichten. Ich denke, es ist besser, wir unterhalten uns jetzt 2007 vor einem großen Parteitag der SPD über so eine Frage, als dass wir das mitten im Wahlkampf 2009 tun würden. Es ist jetzt eine Phase, wo man sich auch mal auseinandersetzen muss und auch mal um den richtigen Weg ringen muss. Ich finde es nicht schlimm. Es sollte natürlich nicht die nächsten zwei Jahre anhalten, sondern es sollte möglichst auf dem Parteitag dann auch zu einer Lösung führen. Das heißt, man muss es dann entscheiden.
Deutschlandradio Kultur: Aber es geht dabei doch auch um ein wichtiges Prinzip. Es geht um das Kernprinzip der Arbeitsmarktreform, nämlich schneller zu vermitteln und auch älteren Arbeitnehmern nicht über eine lange Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes in die Zeit hinein zu schieben, sondern schneller wieder in den Arbeitsmarkt zu bringen. Die Botschaft, die Sie da senden mit einem längeren Arbeitslosengeld ist doch eine ganz andere.
Nahles: Ich muss ganz ehrlich sagen, wir sind sehr erfolgreich damit. Wir sind schneller beim Vermitteln. Das haben wir der Agenda 2010 und ihren Reformen, nämlich der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und auch einer – sagen wir mal – Neuaufstellung der BA zu verdanken. Wir haben es auch verhindert, dass es eine Frühverrentungskette gibt. Dahin gehen wir mit unserem Vorschlag auch nicht zurück, und zwar deswegen, weil man aus Arbeitslosigkeit jetzt nicht mehr mit 60, sondern erst mit 63 in Rente gehen kann. Selbst wenn wir jetzt den Älteren länger Arbeitslosengeld I geben, weil sie lange eingezahlt haben und weil es ein stückweit für Ältere auch schwieriger ist, einen Arbeitsplatz zu finden, ist trotzdem diese Kette – 32 Monate und dann gehen wir in die Frühverrentung oder in den Vorruhestand – unterbrochen.
Deutschlandradio Kultur: Noch mal gefragt: Das Signal ist anders. Sie sagen praktisch: Ab 45 Jahren gehört man zum alten Eisen. Das ist das alte Urteil, das Menschen über sich selbst haben, während man ja eigentlich in der Arbeitsmarktreform sagen wollte: Alte Menschen, junge Menschen haben die gleichen Chancen oder sollten sie am Arbeitsmarkt haben.
Nahles: Ja. Das eine ist das Ziel. Ich glaube, wir haben durch Programme wie 50plus, aber auch durch mehr Weiterbildungsmöglichkeiten, die jetzt in der Großen Koalition auch noch in den nächsten Monaten vorgelegt werden, die Weichen schon in die richtige Richtung gestellt, auch in der ganzen Rentenpolitik der letzten Jahre. Das Ziel ist aber immer noch nicht die Realität. Ich habe eine Bürgersprechstunde jede Woche und da kommen die Leute. Und die sind dann 45, 47 oder 50 und dann ist es nicht so, dass sie dieselben Möglichkeiten haben und sie empfinden es als schieres Unrecht, dass sie nach einem Jahr auf dasselbe Niveau fallen, obwohl sie vielleicht 25, 30 Jahre einbezahlt haben. Insoweit muss man an dem Ziel länger – länger in Arbeit, wir brauchen auch die Facharbeiter – festhalten. Das tun wir. Ich sage aber gleichzeitig: Man muss nicht die Leute den Realitäten anpassen, sondern man muss auch die Realitäten, die wir politisch gestalten, der realen Situation der Menschen ein stückweit anpassen und denen gerecht werden.
Deutschlandradio Kultur: Es ist aber schon interessant, dass Sie Arbeitslosengeld I verlängern wollen und nicht sagen, was Sie früher mal gesagt haben: Wir nehmen das Geld der Bundesagentur und versuchen beispielsweise die Kosten bei der Krankenversicherung zu reduzieren oder die Beiträge für das Arbeitslosengeld zu reduzieren, damit wir schneller Leute wieder reinkriegen, damit Arbeit günstiger ist, damit mehr Menschen Beschäftigung haben. Mit dieser Verlängerung der Bezüge schaffen Sie keinen Effekt auf dem Arbeitsmarkt.
Nahles: Erst mal glaube ich, dass wir beides machen können. Wir sind in einer relativ komfortablen Lage. Wir können die Arbeitslosenbeiträge weiter absenken. Wir haben sie schon abgesenkt. Zweitens ist es so, dass ich mich dagegen wehre, dass aus einem kleinen Schritt, Arbeitslosengeld I für Ältere um ein Jahr zu verlängern, Revironment gemacht wird, auch teilweise – ehrlich gesagt – auch von Kommentaren aus meiner eigenen Partei, der gesamten Logik der Agenda 2010, der Reformen der letzten Jahre. Und insoweit bitte ich einfach ein bisschen, das Instrument jetzt nicht zu dramatisieren oder in seiner Bedeutung exorbitant auszudehnen. Mehr als ein kleiner Korrekturschritt ist es aus meiner Sicht nicht.
Deutschlandradio Kultur: So sieht es auch Franz Müntefering?
Nahles: Da kommen wir wieder zu dem Punkt: Ja, wir sehen es momentan noch nicht gleich. Das ist aber ein großes Geheimnis. Ich sage ganz offen: Jemand, der für diese Agenda-2010-Politik an erster Stelle geprügelt wurde, wie Gerhard Schröder und Franz Müntefering, auch übrigens von Frau Merkel und der CDU, die sich jetzt in den Ergebnissen sonnen, dem fällt es sicherlich schwerer als mir, die ich von Anfang an gesagt habe, hey, diesen Punkt – ich habe die Agenda auch mit getragen – halte ich eher für falsch. Ist doch klar, dass das einfach auch noch mal eine andere Situation ist. Da verstehe ich den Franz Müntefering auch.
Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir weitergehen müssen. Wir können nicht zurück gucken. Die Agenda 2010 wurde 2003 beschlossen und wir reden jetzt über 2009 ff. Insoweit bin ich wirklich der Meinung: nach vorne gucken und auch ein bisschen verändern dürfen, das muss drin sein, Franz.
Deutschlandradio Kultur: Noch mal auf die Agenda 2010 zurückkommend, von der Sie auch geredet haben: Es ist interessant, dass in den Medien in den letzten Wochen und Monaten viel über die Aufarbeitung geredet wird. Die SPD versucht das auch. Gelingt es ihr im Moment auch, diese Schröder-rot-grüne Zeit so aufzuarbeiten, damit man sie auch weiterentwickeln kann? Oder haben Sie das Gefühl, da gibt es im Moment tatsächlich Beharrungskräfte, die den Schröder und die ganze Zeit auf einen Sockel stellen – Stichwort Steinbrück u.a. – und deshalb dieses Ding nicht antasten wollen?
Nahles: Ich glaube, das kann uns gelingen. Wir sind noch nicht genau auf dem Punkt gelandet, aber selbst Gerhard Schröder kann da eine große Rolle spielen. Er kommt auch zum Parteitag. Ich glaube, er ist da bereit zu helfen, dass man das, was geleistet wurde, selbstbewusst auch mit in die Zukunft nimmt, aber jetzt trotzdem da nicht stehen bleibt. Es wäre auch eine Hoffnung, die ich habe, dass das auf dem Parteitag gelingt, eben diese beiden Sachen zu schaffen: einen Aufbruch, auf der anderen Seite aber auch ein selbstbewusster Umgang mit dem, was wir die letzten Jahre in der Regierungsverantwortung gemacht haben.
Deutschlandradio Kultur: Aber man muss auch Wunden lecken. Sie haben unendlich viele Wähler verloren, Parteiaustritte, die Gewerkschaften sind auf Distanz gegangen. Warum redet keiner offen über diese Fragen, so dass man in die Zukunft gehen kann. Bei Beck hat man in etwa den Eindruck, er sagt, ja, das war irgendwie in Ordnung und dann doch nicht, also, wasch mich, aber mach mich nicht nass. Und irgendwie kommen wir jetzt in die Zukunft, ohne das Alte noch mal richtig aufzuarbeiten. Den Eindruck haben Sie nicht?
Nahles: Wissen Sie, Kurt Beck ist ja jetzt auch in der Situation, dass er den Laden da zusammenhalten muss. Und es gibt unterschiedliche Bewertungen darüber. Deswegen versucht er natürlich den Weg der Mitte zu finden. Ich glaube, das macht er ganz gut momentan und er kriegt auch breite Unterstützung dafür. Ich selber spreche es aber offen aus: Es ist nicht möglich, einfach ein Bekenntnis zur Agenda 2010 abzulegen, weil es janusköpfig ist. Es ist ambivalent. Es wird bei den Leuten an der Basis auch so gesehen. Die jubeln auch dem Gerhard Schröder zu, z.B. auf dem Landesparteitag in Hamburg, weil sie stolz darauf sind, weil sie auch immer noch den Schmerz haben, dass wir keinen Kanzler mehr stellen. Und sie wollen das auch bejubeln. Auf der anderen Seite gucken sie dann abends in ihre Reihen – oh, wir sind ein Drittel weniger geworden in unserem Ortsverein. Und das haben wir eben auch dieser Reformpolitik – in Anführungsstrichen – zu verdanken.
Ich finde, man muss auch diese Ambivalenz zugeben und muss das auch offen ansprechen. Nur so kann man das auch überwinden, dass wir da stecken bleiben…
Deutschlandradio Kultur: Aber da sind Sie doch in einer Minderheit in der offenen Aufarbeitung.
Nahles: Nö, ich glaube nicht. Ich habe den Steinmeier in den letzten Tagen auch so verstanden, dass er das auch so sieht. Ich glaube, dass auch Peer Steinbrück weiß, ich habe ja jetzt öfter mit den beiden zu tun, dass man nicht mehr mit derselben Politik wie 2003 jetzt arbeiten muss. Warum? Wir haben nicht mehr eine Wirtschaftskrise, sondern wir haben eine gute Situation. Es hat sich auch Gott sei Dank eine Menge verändert. Und ich habe das Gefühl, dass er das auch so sieht, dass es da andere Bewertungen gibt und dass einige stolz sind und die anderen weniger. Ja.
Deutschlandradio Kultur: Ich finde das ja nicht unsympathisch, wie Sie antworten, aber Sie kommen ein bisschen zahm daher. Sie wollen stellvertretende Parteivorsitzende werden. Sie werden das erklärtermaßen als Sprecherin der Linken. Was soll sich denn da ändern, wenn Sie in dieser Rolle in den Parteivorstand eintreten?
Nahles: Ich bin nicht zahm, sondern ich versuche das zu sagen, was ich für richtig halte. Für richtig halte ich nicht, die SPD auseinander zu treiben und zu spalten, sondern die Probleme, die es mit diesem Prozess Agenda 2010 gibt, ehrlich zu benennen. Aber auch ich möchte eigentlich nicht, dass die Linken, die damit in den letzten Jahren mehr Probleme hatten als andere, in der Vergangenheit verharren. Ich würde die gerne auch mitnehmen. Ich möchte einfach, dass wir von dieser Bekenntnisrhetorik wegkommen, die im Prinzip leer ist. Was ist denn das: Wir sind stolz auf die Agenda 2010? Ha? Da sage ich mal, das ist gar nix. Wir sollten mal lieber wieder über Politik reden, als über irgend so einen Krempel.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie haben einen Grundsatzparteitag. Und dann geht es auch darum, dass man ganzheitliche Ideen entwickelt, Leuchttürme irgendwohin stellt, wo die Partei mitgeht und sagt: Ja, da wollen wir hin. Ist das erkennbar? Wo ist das? Und ist das künftig links? Sind Sie das?
Nahles: Hallo! Lesen Sie mal das neue Grundsatzprogramm der SPD.
Deutschlandradio Kultur: Da steht "demokratischer Sozialismus" drin.
Nahles: Ich sage Ihnen: Der demokratische Sozialismus ist ein wichtiger kleiner Punkt für unsere Selbstvergewisserung. Da steht viel mehr drin. Ich darf das so sagen, weil ich mit Wolfgang Thierse und Hubi Heil den ganzen Sommer dafür aufgewandt habe.
Deutschlandradio Kultur: Das können wir jetzt nicht vorlesen, aber nennen Sie uns mal die Richtung, wo Sie sagen: Da marschiert die neue SPD hin. Die ist anders als die des Gerhard Schröder. Wir machen was Neues und ihr könnt alle mitgehen, weil es sich lohnt für die Partei zu arbeiten.
Nahles: Ich finde, dass das Europakapitel, das da formuliert wurde, eine Vision hat, was momentan keine anderen sozialdemokratischen Parteien vorweisen können. Wir fordern einen sozialen Stabilitätspakt, nicht nur einen Beschäftigungs- und Wachstumspakt. Ich glaube, dass wir auch sagen, wir wollen, dass es ein Europa gibt, das eine echte Regierung mit einer echten Demokratie wird und trotzdem föderal ist. Also, richtig gut, Vision. Da steckt Potenzial drin, das wir im Übrigen in den ersten Schritten auch schon im nächsten Regierungsprogramm verarbeiten können.
Deutschlandradio Kultur: Und da finden sich alle – die Steinmeiers, die Steinbrücks, die Nahles, alle finden sich unter diesem Dach und sagen, das ist das Gemeinsame, was wir machen wollen?
Nahles: Ich habe das so empfunden, dass das eines der wirklich seltenen Konsensprojekte der letzten Jahre gewesen ist. Ich glaube, das hat auch ein stückweit versöhnt. Wir reden jetzt zwar schon in der Vergangenheitsform, das Ding muss noch über den Parteitag und da muss man als Führung in der SPD immer noch ein bisschen Muffen haben, weil das weiß man nicht genau. Aber die Rückmeldungen sind sehr positiv. Ja. Sagen wir es mal so: Es könnte echt ein Lagerfeuer sein.
Deutschlandradio Kultur: Halten wir noch mal fest: Es ging unter der Schröder-Ära um die deutschen Reformen nach innen. Jetzt geht es um das soziale Europa. Das könnte das neue Schlagwort sein.
Nahles: Nein, es geht darum, dass wir auch mal klarstellen müssen, dass die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, Deregulierung, Druck auf die Löhne, nicht von der Agenda 2010 kommen, das behauptet immer die Linkspartei, sondern das kommt daher, dass wir eine globale Konkurrenz um Arbeit mittlerweile haben, dass wir Finanzmärkte haben, die den Unternehmen ihren Takt aufzwingen. Dieses, Schröder ist an allem schuld, das stimmt doch überhaupt gar nicht. Und es ist deswegen wichtig, dass wir gesagt haben: Woran liegt es und was müssen wir eigentlich dagegen tun? Und dann ist dieses, wir gehen zurück in den Nationalstaat und den Sozialstaat der 70er, 80er Jahre, einfach zu kurz gesprungen.
Deutschlandradio Kultur: Gehen wir mal davon aus, dass es mit Hilfe dieses Grundsatzprogramms der Partei gelingt, möglicherweise wieder deutlich über die 30 % zu kommen. 50 werden es wahrscheinlich nicht werden. Deshalb stellt sich immer die Frage nach den Machtoptionen. Sie grenzen sich ziemlich deutlich von der Linken ab. Das haben Sie in den 80er Jahren, nicht Sie persönlich, aber Ihre Partei, auch mit den Grünen gemacht. Später gab es dann einen grünen Vizekanzler Joschka Fischer – wir wissen es. Wie lange geht dieses Spiel noch, dass man sich von den Linken abgrenzt? Oder kommt der Punkt, wo man sagt, o.k., die sind da, wir müssen mit denen zusammenarbeiten, weil es ja eine linke Mehrheit innerhalb dieses Landes möglicherweise gibt.
Nahles: Bin ich Jesus? Weiß ich, ob es 2012 so einen Punkt gibt? Ich kann nur sagen: Ich war noch vor einer Woche entsetzt über die Rede von Gregor Gysi zum Thema Afghanistan. Da habe ich gemerkt, o.k., das wird auf absehbare Zeit leider nix auf der Bundesebene. Das kann man machtpolitisch bedauern. Politisch-inhaltlich ist es aber zurzeit nicht möglich. Auf der anderen Seite regieren wir mit der Linkspartei ja auch schon und ich kann mir durchaus vorstellen, dass das in Thüringen z.B. eine weitere Koalition geben kann. Aber insgesamt auf der Bundesebene halte ich das auf absehbare Zeit für ausgeschlossen. Ich habe mich wirklich gefragt: Warum ist das so? Aber ich glaube, dass die Linkspartei jetzt in ihrer neuen Formation tatsächlich eher den Schritt zurück gemacht hat in so eine Sammelbewegung für linke radikale Gruppen. Momentan sind wir weiter entfernt als noch vor ein paar Jahren.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie sind, um noch mal das Klischee zu bedienen, die linke Frontfrau. Sie müssten sich ja eigentlich überlegen, wie kriege ich wieder die Linken zur SPD hinüber? Teilweise sitzen sie bei Attac, teilweise sind sie, wenn sie mittelalterlich sind, bei den Grünen gelandet. Wie kriegen Sie sie rüber, weil Sie ja künftig auch Koalitionen bilden wollen? Aber mit wem dann?
Nahles: Ja, durch Politik, sonst nix. Ich glaube nicht, dass man durch Geifern auf irgendwelche Machtoptionen oder Koalitionen die SPD stärken kann. Ich kämpfe nicht für die Linke abstrakt, sondern ich bin Sozialdemokratin und ich möchte deswegen klipp und klar, dass die Linken möglichst wenig Unterstützung finden, sondern sich möglichst viele für die SPD entscheiden können. Dafür brauchen wir tatsächlich politisch noch Angebote, die wir jetzt gerade auch entwickeln. Das war in den letzten Jahren nicht immer einfach, sonst wären die Linken nicht so stark geworden. Andererseits glaube ich, dass sich die Situation verbessert hat, dass insgesamt auch der Kurt Beck z.B. eine ganz klare Orientierung macht, um einen Schulterschluss mit den Gewerkschaften zu organisieren. Das betreibt er sehr systematisch und wir haben da aus meiner Sicht auch schon einige Erfolge erreicht. Wir bearbeiten das aber nicht im Hinblick auf Nachlaufen. Wir sind nicht souverän, wenn wir irgendwem hinterher laufen.
Deutschlandradio Kultur: Aber was machen Sie denn, wenn z.B. in zwei Jahren Ihr Parteifreund Heiko Maas im Saarland Ministerpräsident werden könnte, und zwar mit Stimmen der Linken? Darf der sich das dann leisten? Darf er sich dann von den Linken wählen lassen?
Nahles: Ich kenne Heiko Maas sehr gut. Das ist ein Freund von mir. Ich war Juso-Landesvorsitzende in Rheinland-Pfalz. Da war er Juso-Landesvorsitzender an der Saar. Solange kennen wir uns schon. Und ich glaube, er wird das dann weise entscheiden.
Deutschlandradio Kultur: Dahinter steht die Frage: Suchen Sie nach gemeinsamen Schnittmengen mit der Linken? Oder sagen Sie, Abgrenzung ist die Devise, wir wollen mit denen einfach nichts zu tun haben?
Nahles: Wir wollen mit denen einfach nix zu tun haben, ist ja eine alberne Position. Das Kind stellt sich in die Ecke und schmollt. Das ist ja Unsinn. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich bin froh, dass wir den Quark, den wir da im Sommer hatten, Bashing in der Öffentlichkeit, Beschimpfungen aller Art, hinter uns gelassen haben. Lassen Sie uns lieber über Alg I streiten als über sonst was.
Deutschlandradio Kultur: Aber man muss doch das Ziel sehen. Es könnte ja gut sein, dass Sie ehrlich und bewusst in die Opposition marschieren müssen nach 2009. Genauso gut könnte es sein, darauf hat Steinmeier hingewiesen, dass Sie sich in der Großen Koalition wieder sehen. Das sind doch eigentlich zwei recht unterschiedliche Konzepte. Wie will man die heute programmatisch schon vorweg nehmen, wenn man schon heute weiß, in der Großen Koalition sind die Gemeinsamkeiten endlich?
Nahles: Bei einem Fünfparteiensystem, was wir wahrscheinlich auch 2009 haben, ist das mit dem Vorher-schon-auf-eine-spezielle-Koalition-schielen fast nicht mehr möglich. Deswegen muss man eigentlich mehr das Profil der eigenen Partei stärken.
Deutschlandradio Kultur: In drei Wochen ist es dann soweit. Sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit zur Vize-Vorsitzenden der SPD gewählt, ein gewichtiges Amt. Jetzt gibt es Freunde von Ihnen, die sagen: Die Nahles stellt sich irgendwohin und schon kommandiert sie den Laden. Haben Ihre Freunde recht?
Nahles: Oh, wenn man solche Freunde hat. Ich bin schon so ein bisschen der Typ, auch in der Schule, klar, Schülerzeitung gemacht, da war ich natürlich Chefredakteurin irgendwie innerhalb kürzester Zeit. Oder ich gründe zusammen mit Freunden einen Ortsverein – war ich natürlich Ortsvereinsvorsitzende. Ich habe halt die große Klappe und ich habe keine Angst, jedenfalls weniger Angst als andere Leute, habe ich festgestellt, also z.B. vor einem großen Publikum zu reden oder so was, oder einfach Angst, sich eine blutige Nase einzufangen, eine Niederlage zu haben. Das ist das, was mich vielleicht manchmal dann in diese Rollen bringt. Ich habe darüber auch schon nachgedacht. Was ist das eigentlich? Das sind die beiden wesentlichen Sachen – große Klappe und keine Angst.
Deutschlandradio Kultur: Wie lange wird es dauern, bis die SPD nachzieht und eine Kanzlerkandidatin aufstellt?
Nahles: Wie alt bin ich denn jetzt?
Deutschlandradio Kultur: 37 – okay, Frau Nahles, herzlichen Dank für das Gespräch.
Nahles: Bitte.