Nahkampfplatz des Nichtverstehens

Diese eigenwillige Stadt- und Architekturgeschichte verbindet ökonomische, ästhetische, philosophische und soziologische Erkenntnisse. Olaf Briese kommt zu dem Ergebnis: Mauern begrenzen, doch sie schaffen auch Orientierung und entfalten eine Aura.
Der Blick durch sein Fenster aus dem obersten Stock eines Berliner Mietshauses fiel auf eine Mauerlandschaft: Brandmauer, tapezierte Wohnungswände, Mauern der Nachbarhäuser, Mauerreste aus dem Zweiten Weltkrieg. Den 1963 geborenen Berliner Kulturwissenschaftler und promovierten Philosophen Olaf Briese führte dieser alltägliche Anblick zu der Frage, welche Funktion Mauern für Menschen haben – und ob sie nicht am Ende gar mächtiger sind als diejenigen, die sie gebaut haben.

Sein neues Buch: "Steinzeit. Mauern in Berlin" ist Resultat eines neugierigen Blickes, unorthodoxen Nachdenkens, intensiver Lektüre quer durch alle Disziplinen – allein 30 kleinbedruckte Seiten an Literaturangaben von Gartenbaukunst bis zur Anlage nationalsozialistischer Konzentrationslager weist es auf – sowie der Fähigkeit, mit munterem Esprit zu formulieren.

Briese überrascht jeden, der meint, Mauern seien bloß mehr oder weniger unförmige Gebilde aus Stein und Beton. Ausgehend von den Mauern Berlins, verfolgt er, was man am Stein ablesen kann, wie vielfältig er benutzt wurde, was Mauern über gesellschaftliche Zustände und historische Ereignisse erzählen, was für unterschiedliche kulturelle Funktionen sie ausüben. Das Buch, eine eigenwillige Stadt- und Architekturgeschichte, verbindet ökonomische, ästhetische, philosophische und soziologische Erkenntnisse. Und kommt zu dem Ergebnis: Mauern begrenzen, doch schaffen sie auch Orientierung, einen Handlungsraum. Sie entfalten eine Aura. Doch sie zerfallen wieder, obwohl sie für Stabilität stehen und auf Dauer gedacht sind. Damit sind sie Ausdruck unserer widersprüchlichen Kultur, die ebenfalls nicht statisch oder hermetisch ist.

Briese beginnt seine Kulturgeschichte der Mauern in der Jungsteinzeit, um sie von dort aus chronologisch bis in die Gegenwart zu entwickeln. Er verzeichnet die massenhafte Neunutzung von Megalithen seit dem Mittelalter für Sakral-, Wehr-, und Repräsentativbauten. Unter den preußischen Königen wurden mit ihnen dann Straßen gepflastert. Im 19. Jahrhundert rückten die Felsenfindlinge in den Rang nationaler Heiligtümer, sie standen für eine germanische Urzeit, die politisch Konjunktur hatte. Nach der Reichsgründung 1871 versinnbildlichten sie Neubeginn und Ewigkeitsanspruch des Deutschen Reiches. In dieser Zeit setzte sich die heute unhaltbare These durch, die Slawen hätten ihre Mauern mit Holz und Lehm, die Germanen aber mit Stein gebaut - Stein und Herrschaftsanspruch gehen seit langem Hand in Hand. Das klassische Bild einer von Mauern umgebenen Stadt entschlüsselt der Autor auch als politisch motiviert. Als rückwärts gewandte Utopie einer übersichtlichen, geschlossenen, harmonischen Welt, entstanden in einer Zeit politischer und wirtschaftlicher Instabilität.

Der "antiimperialistische Schutzwall", die Berliner Mauer, nimmt am Ende des Buches eine prominente, aber nicht dominante Position in Brieses Betrachtungen ein. Unter dem Motto "Pfusch am Bau" erläutert der Autor, dass es nach der "Rumpelmauer" der ersten Stunde, ohne Fundament und häufig mit Backsteinen befestigt, drei weiterer "Generationen" bedurfte, bevor sie "wartungsarm" und "formschön", so der Chef der DDR-Grenztruppen 1982, auch zum ästhetischen Ereignis wurde.

Nach 15 Kapiteln schlägt Briese im Epilog eine überflüssige Volte. In seiner Interpretation des Kafka-Textes "Beim Bau der chinesischen Mauer", kommt er zum Schluss, dass es gar nicht um den Bau und das Bauen geht, sondern um die Unmöglichkeit des Verstehens. Er nennt die Mauer "Nahkampfplatz des Nichtverstehens", dann "Regentin von Welt an sich". Das strapaziert die Macht der Metaphern dann doch ein wenig.

Besprochen von Carsten Hueck

Olaf Briese: Steinzeit. Mauern in Berlin
Mit Illustrationen von Falk Nordmann
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2011 ,
411 Seiten, 29,90 Euro