Naher Osten

Fotografische Erkundungen im Heiligen Land

Ali Ghandtschi wollte Israelis und Palästinenser nur nach ihren Kindheitserinnerungen befragen
Ali Ghandtschi - wollte Israelis und Palästinenser nur nach ihren Kindheitserinnerungen befragen. © privat
Von Jean-Claude Kuner · 26.08.2015
Der Fotograf Ali Ghandtschi wollte Israelis und Palästinenser nach ihren Kindheitserinnerungen fragen. Dabei erlebte den Konflikt in all seinen Untiefen. Eine politische Spurensuche.
Ali Ghandtschi:
"Es gibt ja diesen Spruch: in Israel gibt es sieben Millionen Ministerpräsidenten. Weil jeder weiß, wie es richtig gemacht wird. 'Mein Israel' könnte die Überschrift zu jedem Kapitel dieses Buches sein, weil jeder Protagonist über sein Israel erzählt, was unterschiedlicher nicht sein könnte. Mein Israel? Je mehr ich über dieses Land erfahren habe, desto weniger weiß ich dieses Land einzuschätzen."
Amos Oz:
"Ich bin ein Flüchtlingskind. Ich bin das Kind von Überlebenden. Und ich bin zwischen zwei Holocausts aufgewachsen. Der eine Holocaust hatte in Europa stattgefunden und der andere, drohende Holocaust war der, der uns Juden in Jerusalem erwarten würde, wenn die Engländer abgezogen wären. Denn viele Menschen waren überzeugt davon, dass die Araber sofort kommen und uns alle umbringen würden. Es war eine Kindheit voller Ängste und Unsicherheiten."
Ali Ghandtschi:
"Ich bin Ali Ghandtschi. Ich stamme aus dem Iran und lebe seit 1980 in Berlin. Als wir nach Deutschland kamen, war ich elf Jahre alt. Ich bin zweisprachig aufgewachsen mit einer deutschen Mutter, war dort in der deutschen Schule und wurde im Iran von unserer großen Familie schon immer als der andere, der Deutsche, angesehen, was sich komplett umdrehte, als wir nach Deutschland kamen. Da wurde ich nämlich immer als der Perser angesehen."
Ali Ghandtschi:
"Amos Oz - der hochverehrte Amos Oz, den ich gelesen hatte und auch in Berlin schon einmal getroffen hatte. Und es war sehr beeindruckend in seiner Wohnung mit Büchern bis unter die Decke. Das Interview mit ihm wurde eigentlich überhaupt nicht lektoriert, weil er spricht komplett druckreif."
Amos Oz:
"Es war schwer, wie ein normales Kind zu spielen, denn die Briten verhängten in Jerusalem ab sechs oder sieben Uhr abends eine Ausgangssperre. Eine normale Kindheit war unmöglich, weil so viel Angst und Unsicherheit in der Luft lagen."
"Fotografieren wurde vollkommen unwichtig"
Ali Ghandtschi:
"Israel war immer ein Thema für mich. Es wurde immer darüber gesprochen. Jeder hatte irgendeine Meinung zu Israel. Irgendwann ist mir aufgefallen: Ich rede eigentlich nur über ein Bild, das ich habe von den Medien. Ich dachte plötzlich: Was redest Du da eigentlich? Das geht nicht. Komm, Du musst da selber mal hinfahren. Lustigerweise hatte ich tatsächlich Angst, nach Israel zu fahren. Es war eine ganz irrationale Angst gewesen. Ich war schon in anderen Ländern, wo es Unruhen gab. Aber Israel - ich dachte, irgendetwas ist komisch. Vielleicht schicken sie mich auch zurück. Ich wusste natürlich auch, dass ich mit meinem Deutsch-Sein und Persisch-Sein den Leuten da unten wahrscheinlich sehr suspekt sein würde, was tatsächlich auch der Fall war.
Weil ich am Flughafen für mehrere Stunden von mehreren Leuten befragt wurde, was möchtest Du hier überhaupt? Sie haben tatsächlich auch jemanden hergebracht, der Persisch sprach. Sie wollten wissen, wie mein Großvater heißt. Wirklich absurd. Als ich dann aber aus dem Flughafen und diesen Befragungen ausgespuckt wurde, war das ein ganz merkwürdiges Gefühl.
Ich bin erstmal mit einem Minibus nach Jerusalem gefahren, wurde dann von einem Freund, bei dem ich schlafen konnte, herzlichst empfangen und hatte das Gefühl, eigentlich eher zu Hause zu sein, als ich es hier in Deutschland bin. Weil es ist dann ja doch der Orient. Denn es leben ja unendlich viele Iraner in Israel. An jeder Ecke hört man Persisch. Das hört man hier in Berlin zum Beispiel nicht. Alles war ganz ähnlich wie es zum Beispiel in Teheran sein würde."
Amos Oz:
"Ich war sehr politisch. Als Kind war ich extrem nationalistisch. Ich war ein kleiner Chauvinist. Ich war ein militanter Zionist. Anfangs war ich kein Experte für arabische Angelegenheiten. Als Kind kannte ich nicht viele Araber. Aber ich hatte genug Fantasie, um mir vorzustellen, was ich denken würde, wenn Fremde von einem anderen Planeten in mein Land einfallen und behaupten würden, das Land gehöre ihnen, weil ihre Vorväter hier gelebt hätten. Und ich erkannte schon sehr früh, dass dies kein Western war, mit Guten und Bösen, sondern eine große Tragödie, in der die Rechte der einen auf die Rechte der anderen prallten. Mit zwölf oder 13 wurde mir vollkommen klar, dass die palästinensischen Araber nirgendwo anders hingehen konnten, und wir ebenso wenig. Das ist noch immer so. Das ist eine traurige Realität."
Ali Ghandtschi:
"Anfangs war der Plan, nicht einfach nur so nach Israel zu fahren, sondern ich hatte mir ein Projekt überlegt. Und da ich ja für das Literaturfestival hier arbeite, dachte ich: Ich fahre nach Israel, mache Porträts von Autoren, und stelle die dann während des Literaturfestivals aus. Nachdem ich eine Woche in Israel verbracht hatte, habe ich gemerkt, das reicht nicht, mit Fotos von Autoren wieder zurückzukommen. Das sagt zu wenig aus über das, was ich da mitbekomme und lerne.
Ich hatte ein kleines Tonbandgerät mitgenommen, weil ich dachte, ich könnte so ein bisschen O-Töne auf den Straßen aufnehmen. Ich wusste gar nicht, was ich damit überhaupt anfangen will. Aber ich hatte das Gerät dabei und hab' relativ bald angefangen, die Leute nach einer Kindheitserinnerung zu fragen. So zusätzlich zu dem Foto, was ich eigentlich machen wollte. Nachdem ich die ersten zwei, drei Kindheitserinnerungen gehört hatte, habe ich gemerkt, dass das Fotografieren eigentlich vollkommen unwichtig wurde."
Arabische Intellektuelle wollten nicht an einem Projekt mit Juden teilnehmen
Ali Ghandtschi:
"Judith Rothem ist eine wahnsinnig interessante Frau. Ich glaube, sie ist jetzt 70 Jahre alt. Sieht irre gut aus. Kommt aus einem ultraorthodoxen Umfeld. Hat, glaube ich, sieben Kinder. Mittlerweile sind ihre Kinder erwachsen. Sie hat sich von ihrem Mann getrennt. Sie ist nicht mehr orthodox. Und schreibt aber über diese Themen. Wir haben uns in einem Café in Tel Aviv getroffen. In so einer Shopping Mall."
Judith Rothem:
"Die meisten Menschen in Israel haben Angst. Sie haben Angst vor der Zukunft. Wir hatten noch nie eine lange Zeit der Entspannung. In der Bibel gibt es Stellen, die mit dem folgenden Satz enden: 'Da ward das Land still vierzig Jahre.' Aber wir hatten nicht einmal diese vierzig Jahre. Nie.
Alle zehn Jahre, alle zwölf Jahre, alle sieben Jahre haben wir seit 1948 einen Krieg erlebt, und dazwischen wurden und werden von Gaza aus Raketen abgefeuert, unter anderem auf Sderot und Beer Sheva. Ich behaupte nicht, wir hätten damit nichts zu tun, aber wir haben das Gefühl, dass wir hergekommen sind, um endlich Ruhe zu finden, um auf sicherem Boden zu stehen. Aber diese Hoffnung ist vergeblich.
Mohammad Ali Taha:
"Ich wurde 1941 geboren. Noch vor der Geburt Israels."
Ali Ghandtschi:
"Das Gespräch mit Mohammad Ali Taha war auch sehr interessant. Ehemaliger Lehrer, mittlerweile Schriftsteller, ein älterer Herr, der kein Wort Englisch redet. Es gibt viele arabische Israelis, palästinensische Israelis, die verständlicherweise mit extremem Groll sprechen. Es ist schwer, sachlich über dieses Thema zu sprechen. Ich habe nur wenige paar getroffen, die das geschafft haben."
Mohammad Ali Taha:
"Mir stand es nicht frei, Israel zu wählen. Israel hat mich gewählt. Israel kam zu mir. Seine Ankunft war nicht schön, sie war eine Katastrophe. Sie hat mein Haus und mein Dorf zerstört und mich zu einem Flüchtling gemacht, der unter Hunger und Armut litt. Ich lebte daraufhin mit meiner ganzen Familie vier Monate lang auf einem Berg, unter einem Baum.
Wir lebten unter diesem Baum auf dem Berg von Juni bis Oktober 1948. In dieser Zeit erlebten wir eine Tragödie. Ich war zusammen mit meinem Vater, meiner Mutter, meinem Bruder und meiner Schwester. Unter dem Baum wurde meine Schwester krank. Wir konnten sie nicht behandeln, und sie starb. Sie starb unter dem Baum. Das Problem war, wo wir sie hinbringen sollten, wo wir ein Grab für sie finden konnten. Ich erinnere mich noch, wie mein Vater sie in den Armen hielt, wie er mit ihr in das Dorf Sakhnin ging und sie auf dem Friedhof begrub. Ich weiß nicht, wo ihr Grab ist, bis heute nicht."
(…)
Ali Ghandtschi:
"Ich hatte überlegt, wie kann ich das bebildern, was ich höre. Ich wollte nicht zu konkret werden in den Bildern und habe angefangen, Wände zu fotografieren. Denn mich interessierte Graffiti schon seit jeher. Und in Israel wie auch im Iran ist mir das aufgefallen, dass Graffiti natürlich viel politischer sind. Mir fiel gleich ins Auge, dass sehr viel Politik, sehr viel Religion dort an den Wänden steht. Sehr viel Ausstreichungen. Dass Leute etwas an die Wand bringen und andere Leute das übermalen, überstreichen. Also jeder seine Meinung über die Meinung des anderen setzt. Ich habe das fotografiert. Das wurde dann zu einer Serie, die ich diesen Geschichten entgegen gesetzt habe, weil in Serie sind diese Kindheitserinnerungen ja auch übereinander gelegte Wahrheiten.
Ich habe mit so viel unterschiedlichen Menschen gesprochen, die unterschiedlichste Ansichten haben. Und jeder, der mir eine Kindheitsgeschichte erzählt hat, ist ja auch weiter gegangen und hat sich und sein Leben erklärt oder seine politischen Ansichten noch erklärt. Und das sind Ausstreichungen. Letztendlich sagt der eine etwas und negiert sozusagen die Geschichte des andern und umgekehrt."
(…)
Ali Ghandtschi:
"Ich wurde da sehr freundlich aufgenommen von den arabischen Intellektuellen, die aber fast durch die Bank weg sagten, dass sie nicht interessiert seien, an einem Projekt zusammen mit Juden teilzunehmen. Und das war wirklich sehr schwer. Da war eigentlich fast keine Überzeugungsarbeit zu leisten. Es gab einige, die mitgemacht haben. Andere wiederum wollten partout nicht mitmachen und haben mir sogar vorgeschlagen: Macht doch einfach zwei Bücher. Eins mit Juden, eins mit Arabern. Die haben das Konzept leider nicht verstanden. Es gab natürlich auch Leute, die in einem Buch, was ein Deutscher macht, nicht erscheinen wollten."
(…)
Vielleicht rettet eine deutliche Bewegung zur anderen Seite hin
Ariel Zilber:
"Das ist sehr verdächtig. Du bist Iraner, und, schlimmer: du bist auch Deutscher. Was hast du hier vor? Was bedeutet dein Projekt? Ich glaube nicht, dass es etwas bringt. Es gibt in Israel sieben Millionen Juden, und jeder hat eine eigene Meinung und eine eigene Geschichte.
Ich wuchs in einem kommunistischen Kibbuz auf, aber es war ein sehr guter Kibbuz. In der dritten Klasse, als wir zehn Jahre alt waren, bekamen wir einen neuen Klassenlehrer. Er sagte zu uns: 'Gut, ich zwinge euch nicht, am Unterricht teilzunehmen. Wer möchte, kann den Klassenraum verlassen.' Wir gingen alle raus. Er sagte: 'Okay, ihr wollt nicht lernen, dann schauen wir uns also das Land an.' Wir machten viele Ausflüge durch ganz Israel. Dieser Klassenlehrer brachte mir die Liebe zum Land Israel bei."
Ali Ghandtschi:
"Es war sehr schwierig, locker zu bleiben im Gespräch mit Ariel Zilber. Ariel Zilber war und ist immer noch in Israel ein hochverehrter Musiker. Allerdings nur noch hochverehrt wegen seiner Musik, nicht wegen seinen politischen Ansichten. Denn er ist ein extrem ultrarechter Siedler geworden. Das Gespräch mit ihm war ganz interessant, aber ich musste mir echt oft auf die Zunge beißen."
Ariel Zilber:
"Das Einzige, was mich jetzt interessiert, ist, das Land zu einen. Das ist mein einziges Ziel. Sonst interessiert mich nichts. Wir streiten uns innerhalb der religiösen Gruppen und innerhalb der nichtreligiösen Gruppen, wir haben so viele Gruppen und Untergruppen. Das finde ich sehr schlecht. Weißt du, ich glaube etwas, was alle Propheten gesagt haben, auch Moses: Wenn man eins ist, wird es keinen Feind mehr geben. Das ist es, worum wir uns bemühen. Ich möchte nicht mit Arabern reden. Nichts.
Wir führen Krieg gegeneinander. Egal, wie man es nennt, wir befinden uns im Krieg mit ihnen. Sie sind von Israel abhängig. Wenn wir nicht hier wären, wären sie auch nicht hier. Es gibt viele Chachamim in Israel, weise Männer, die sagen: 'Laut der Bibel spielen die Araber, unsere Feinde, hier eine große Rolle. Sonst wären sie nicht hier.' Weil wir glauben, dass alles passiert, weil Gott es so will. Weil es sonst anders wäre. Also spielen sie eine Rolle, und ihre Rolle ist, Israel zusammenzuhalten. Ich glaube, wenn es die Palästinenser nicht gegeben hätte, wäre der Staat schon längst auseinandergebrochen."
(…)
Judith Rothem:
"Ich denke, wir sollten etwas sehr Mutiges riskieren. Denn wenn wir nichts riskieren, werden wir nichts erreichen. Vielleicht sollten wir einen anderen Weg gehen. Es gibt eine Geschichte von einem berühmten chassidischen Rabbi. Eines Tages, als er mit seinen Schülern zusammensaß, wurde er gefragt: 'Rabbi, sag uns, wie wir bessere Juden werden können. Wie wir Gott näherkommen können.' Und er antwortete: 'Gut, ich erzähle euch eine Geschichte. Ein König hatte zwei sehr gute Freunde. Eines Tages erfuhr er, dass sie eine Untreue begangen hatten, die Strafe sollte sehr streng sein, sie sollten getötet werden. Aber er liebte sie, deshalb beschloss er etwas anderes. Er ließ ein langes Seil zwischen zwei Punkten ziehen, darüber sollten sie gehen, wie im Zirkus. Wer das Seil überquere und nicht hinunterfalle, der solle am Leben bleiben.
Der erste betrat das Seil und überquerte die Strecke, ohne hinunterzufallen. Er blieb am Leben. Sein Freund fragte ihn: Moische, wie hast du das geschafft? Wie hast du es geschafft, nicht vom Seil zu fallen? Er sagte: Ich weiß es nicht, aber als ich merkte, dass ich fallen würde, habe ich das Gewicht auf die andere Seite verlagert. Das war sein Ratschlag.' Das ist es, was ich sagen will. Wir gehen auf einem Seil. Das Seil ist sehr dünn. Und wir kommen nirgendwo an, wir können nur hinunterfallen. Wenn wir aber eine deutliche Bewegung hin zur anderen Seite machen, werden wir vielleicht gerettet.
Ali Ghandtschi:
"Ich würde gerne einmal ein großes Fest feiern mit all den 80 Leuten, die ich getroffen habe. Ich habe öfters gedacht: Diese Person, mit der ich gerade spreche, könnte sich irre gut mit der anderen Person, die ich eben getroffen habe, verstehen. Aber die werden sich in ihrem Leben nicht kennenlernen. Denn wenn Du aus diesem Politischen herausgehst und ins Persönliche gehst, entstehen natürlich Freundschaften, Verständnis, und das verändert, glaube ich mehr, als irgendwelche politischen Entscheidungen."

Das gesamte Manuskript zur Sendung als PDF-Dokument oder im barrierefreien Textformat

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