Nahe Verwandtschaft

Rezensiert von Christine Westerhaus |
Mehr als 98 Prozent unserer Gene sind mit denen von Schimpansen identisch. Trotzdem unterscheiden wir uns enorm von unseren nahesten Verwandten, vor allem wenn es um komplexe Hirnleistungen geht. Welchen Einfluss die Gene auf unser Denken haben, versucht der amerikanische Psychologe Gary Marcus in seinem Buch "Der Ursprung des Geistes - wie Gene unser Denken prägen" zu beschreiben.
Sind wir nur Marionetten unserer Gene oder bestimmen vor allem individuelle Erfahrungen, in welche Richtung sich unser Wesen entwickelt? Der amerikanische Psychologe Gary Marcus versucht in seinem Buch "Der Ursprung des Geistes" eine neue Antwort auf diese alte Frage zu finden, über die sich schon Generationen von Wissenschaftlern Gedanken gemacht haben: Welchen Einfluss haben unsere Erbanlagen darauf, wie sich unser Gehirn und damit unser Geist entwickelt.
"Das Gehirn scheint in gewisser Weise anders zu sein, als der Rest des Körpers. Es ist das einzige Organ, das denkt. Gleichwohl ist es natürlich ebenso wie die anderen auf Blut- und Sauerstoffzufuhr angewiesen. Weil das Gehirn das materielle Substrat mentaler Vorgänge und die Grundlage für Sprache, abstraktes Denken oder Emotionen bildet, ist die Idee verlockend, mit seinem Ursprung habe es eine ganz besondere Bewandtnis. "

Doch dieser Ursprung habe keine besondere Bewandtnis. Soviel macht der Autor gleich zu Beginn seines Buchs deutlich. Der Bauplan für unser Gehirn und damit für unseren Geist ist für ihn im Prinzip der gleiche, wie für alle anderen Organe auch: Es werden Erbinformationen abgelesen, diese in Proteine und andere Bausteine übersetzt und daraus Zellen gebildet, die bestimmte Aufgaben übernehmen. Im Falle des Gehirns ist es das Denken. Was nun allerdings noch fehlt, ist die Verschaltung der Zellen. Denn allein darauf kommt es bei unserem Geist an, meint der Autor.
"Die Gene leisten für das Gehirn genau dasselbe wie für den übrigen Körper: Sie regeln die Produktion von Proteinen in Zellen und lenken so deren Schicksal. Das einzig besondere an der Entwicklung des Gehirns - der materiellen Grundlage des Geistes - ist seine Verdrahtung, also die Verschaltung der Neuronen, aber auch hierbei spielen die Gene (…) eine entscheidende Rolle. "

Ohne Gene also kein Denken. Um diese Ansicht zu untermauern, beschreibt Marcus über viele Seiten hinweg Experimente, mit denen Molekularbiologen den Einfluss der Erbinformationen auf die Entwicklung bestimmter Merkmale erforscht haben. Dabei macht er immer wieder deutlich, dass es nur wenige Studien gibt, die einen eindeutigen Zusammenhang zwischen menschlichen Verhaltensweisen und genetischen Anlagen herstellen können. Zudem weist der Autor darauf hin, dass es nicht Gene für bestimmte Eigenschaften gibt, sondern dass immer mehrere Gene zusammenspielen müssen, damit sich ein Merkmal ausprägen kann. Diese Kapitel sind zwar sehr informativ und auf dem neuesten Stand der Forschung, doch ohne molekularbiologisches Vorwissen muss der Leser sehr aufmerksam sein, um Marcus Ausführungen folgen zu können. Wer sich auf diesen Exkurs einlässt, erhält jedoch einen guten Einblick in das Arbeitsgebiet von Genetikern. Außerdem benutzt der Autor an vielen Stellen anschauliche Vergleiche, um seinen Standpunkt deutlich zu machen:
"Erblichkeitsindizes ähneln den Angaben von Autoherstellern zum Benzinverbrauch ihrer Modelle. Eine solche Angabe ist vermutlich ein guter Anhaltspunkt, aber die Zahl hat recht wenig zu bedeuten. Ob Sie aus einem Liter Benzin nun 20 oder 10 Kilometer herausholen, hängt unter anderem davon ab, wie die Straße beschaffen ist, wann der Vergaser zum letzten Mal eingestellt wurde und wie aggressiv oder defensiv ihr Fahrstil ist. Ähnlich schlägt sich auch in jedem Erblichkeitsindex auf komplexe Weise nieder, welche Erhebungsinstrumente verwendet und welche Personengruppen untersucht wurden. "

Solche Vergleiche machen es für den Leser einfach, Marcus Argumentationslinie zu folgen. Ob er mit seiner Ansicht allerdings Recht hat, darüber sollte sich jeder selbst eine Meinung bilden. Denn auch wenn Marcus molekularbiologische Forschungsergebnisse so auslegt, dass unser Geist einen eindeutigen genetischen Ursprung haben muss: Bewiesen hat er es damit nicht. Und als wolle er seinen Kritikern schon vorab den Wind aus den Segeln nehmen, stellt er Andersdenkende als Menschen dar, die einfach nicht wahrhaben wollen, dass der Mensch nicht die Krone der Schöpfung ist.
"Die Vorstellung, dass das Gehirn genau auf dieselbe Weise zusammengefügt wird, wie der übrige Körper – durch die Aktivität von Tausenden autonomer, aber miteinander interagierender Gene die sich durch natürliche Auslese herausgebildet haben – läuft unserem tief verwurzelten Empfinden zuwider, unser Geist sei etwas Besonderes, von der materiellen Welt irgendwie Getrenntes. Diese Idee setzt aber eine lange Entwicklungslinie fort und führt sie vielleicht zum Höhepunkt – sie handelt vom Erwachsenwerden der menschlichen Spezies, die sich allzu lange als Mittelpunkt des Universums betrachtet hat. "

Gary Marcus: Der Ursprung unseres Geistes – Wie Gene unser Denken prägen
Patmos Verlag
309 Seiten
34,90 Euro