Nah an der mündlichen Tradition

06.08.2008
Aniceti Kitereza (1896-1981) lebte auf der Ukerewe Insel im Victoria-See im heutigen Tansania. Auf Anraten eines kanadischen Priesters begann er, die mündlichen Überlieferungen seines Stammes zu sammeln und aufzuzeichnen. Diese mündeten in seinen Roman "Die Kinder der Regenmacher". Kitereza beschreibt darin die Traditionen und das Alltagsleben vor der Kolonisierung. Er erzählt seine Geschichte in der Tradition der oralen Kultur.
Wissen wurde in traditionellen afrikanischen Gesellschaften über Jahrhunderte mündlich überliefert. So entwickelte sich eine spezielle Form des Erzählens. Die Verschriftlichung fand erst mit der Kolonialisierung beziehungsweise der folgenden Missionierung statt.

Zeitgenössische afrikanische Autoren greifen dank der Globalisierung auf die unterschiedlichsten Quellen und Bezugspunkte für ihre Werke zurück. Der Übergang von der oralen zur schriftlichen Kultur ist allerdings meist nur Gegenstand der ethnologischen Forschung. Eine Ausnahme bildet eine Familiensaga aus dem Gebiet des heutigen Tansania, geschrieben von Aniceti Kitereza.

Am 13. Februar 1945 beendete Aniceti Kitereza seinen Roman "Die Kinder der Regenmacher" in einem kleine Dorf auf der Ukerewe Insel im Victoria-See in Tanganjika, dem heutigen Tansania. 1896 geboren, wurde Aniceti Kitereza mit neun Jahren Christ. Auf der Missionsschule lernte er Deutsch, Französisch, Latein und Griechisch und bekam über die Bibliothek Zugang zu westlicher Literatur. Die englische Sprache brachte er sich im Selbststudium bei. Er arbeitete als Katechet und Lehrer im Dienste der katholischen Mission bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges.

In dieser Zeit begann er auf Anraten eines kanadischen Priesters die mündlichen Überlieferungen der Wakerewe zu sammeln und aufzuzeichnen. Aus den verschiedenen Manuskripten entstand schließlich die Familiensaga "Die Kinder der Regenmacher". Die ursprüngliche Fassung hatte Aniceti Kitereza in seiner Sprache Kikerewe niedergeschrieben, eine von über hundert Sprachen in Tanganjika, so dass kaum die Chance für eine Veröffentlichung bestand.

1968 traf ein deutsches Ethnologenpaar Kitereza und erkannte den kulturgeschichtlichen Wert seines Romans. Auf ihr Anraten übersetzte der Autor sein umfangreiches Werk innerhalb eines Jahres in Kisuaheli, das inzwischen zur Landessprache von Tansania erklärt worden war. Auf der Suche nach Sponsoren gelangte das Manuskript schließlich in die Hände eines Professors für afrikanische Literatur an der Universität von Daressalam. Doch es dauerte nochmals zehn Jahre, bis das Werk gedruckt vorlag. Die erste Vorabkopie des Lebenswerks von Aniceti Kitereza traf per Schiff zwei Wochen nach seinem Tod im April 1981 ein.

Wiederum zehn Jahre später wurde der Roman erstmals in zwei Büchern für das Ausland übersetzt - auf Deutsch von dem Kölner Ethnologen und Afrikanisten Wilhelm J.G. Möhlig. Von ihm stammen auch ausführliche Erläuterungen, die es dem Leser ermöglichen, die Entstehungsgeschichte und die Bedeutung des Werkes nachzuvollziehen.

Aniceti Kitereza erzählt in seiner Familiensaga die Lebens- und Liebesgeschichte von Myombekere und Bugonoka. Er beschreibt ihre traditionelle Lebensform vor der Ankunft der Europäer. Da die Ehe der beiden kinderlos ist, scheint sie zunächst zu scheitern. Weil die beiden Eheleute sich aber wirklich lieben, was in der traditionellen Gesellschaft eher die Ausnahme ist, suchen und finden sie schließlich eine Lösung und der erste Teil endet mit der Geburt des lang ersehnten Sohnes. Im zweiten Teil beschreibt Kitereza an Hand der beiden Kinder von Myombekere und Bugonoka die Kindheit bei den Wakerere und vollendet damit den gesamten Lebenszyklus

Kitereza erzählt seine Geschichte in der Tradition der oralen Kultur. Das heißt, er verwendet viele Wiederholungen auf der Satz- und Wortebene. Zwischendurch gibt es Sprünge in der Handlung und es wird beispielsweise eine Geschichte über die Entstehung des Zusammenlebens von Männern und Frauen eingefügt. Dazu ist der Text ein Fundus an Sprichwörtern, die durch den Kontext der Geschichte gut zu verstehen sind.

Der Autor hat die Absicht, seine Leser mit der traditionellen Lebensform der Wakerewe bekannt zu machen. Dafür fügt er viele Erklärungen ein, in denen er sich manchmal auch ganz direkt an den Leser wendet. Die beiden tragenden Elemente der Gesellschaft sind in der damaligen Zeit die Kleinfamilie als soziale und das Gehöft als wirtschaftliche Einheit.

Darüber hinaus ist es Kitereza wichtig, das Verhältnis der Geschlechter zu erklären. Um dies möglichst deutlich zu machen, handeln seine Hauptfiguren eher klischeehaft, das heißt, sie entwickeln sich als Persönlichkeit im Laufe der Geschichte nur wenig. Dafür beschreibt er ihren Alltag mit allen Herausforderungen sehr detailliert.

In der Neuauflage liegen erstmals beide Teile der Familiensaga in einem Buch vor. Es ist eine Fundgrube für jeden, der sich für traditionelle Lebensformen in Ostafrika interessiert, sowie eine Möglichkeit nicht nur in eine fremde Kultur einzutauchen, sondern auch in eine ungewohnte Form der Erzählkunst.

Rezensiert von Birgit Koß

Aniceti Kitereza: Die Kinder der Regenmacher. Eine afrikanische Familiensaga Roman, aus dem Kisuaheli von Wilhelm J.G. Möhlig
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2008
645 Seiten, 34,90 Euro