Nächstenliebe im Rotlichtmilieu

Von Bettina von Clausewitz |
Der Name Dortmunder Mitternachtsmission klingt etwas altmodisch nach Seelenrettung alten Stils, das Konzept jedoch ist zeitlos aktuell: Es geht um Sozialarbeit und christliche Nächstenliebe für Frauen im Rotlichtmilieu.
"Wir sind der Ansicht, dass Prostitution kein Beruf ist wie jeder andere. Wir denken, dass das den Körper und die Seele kaputt macht. Aber wir sagen nicht: Du musst jetzt sofort damit aufhören! Sondern wir akzeptieren erstmal die Situation und nehmen den Menschen in der Situation an, wie er ist."

Jutta Geißler-Hehlke arbeitet seit fast 30 Jahren bei der Dortmunder Mitternachtsmission, seit 1986 leitet sie die renommierte Beratungsstelle für Prostituierte und Opfer von Menschenhandel. Fürsorge und ein offenes Herz für andere ohne auf die Uhr zu sehen ist der 60-Jährigen zur zweiten Natur geworden.

Das bekommt übrigens auch der junge Hund im Korb unter ihrem Schreibtisch zu spüren, den sie vor kurzem aus dem Tierheim geholt hat; dazu gibt es noch zwei weitere Ex-Straßenhunde auf der Büroetage der Mitternachtsmission:

"Alles Sozialfälle hier, klar. Wie könnte es anders sein?"

Vor 90 Jahren, im März 1918, haben die frommen Schwestern der evangelischen Frauenmission Malche die Tradition aktiver Nächstenliebe im Rotlichtmilieu begründet - damals noch, um "den Gefallenen und Gefährdeten die rettende Hand zu bieten". Auch wenn die Schwestern selbst mit Tracht und Haube heute nicht mehr aktiv sind, Jutta Geißler-Hehlke führt diese Tradition fort.

"Eigentlich kann man nicht von einem richtigen Umschwung sprechen. Wir machen jetzt mehr aufsuchende Sozialarbeit, wir haben dieses Multikulti-Team und gehen raus. Aber der Geist, der dahinter steckt, ist gar nicht so viel anders. Die haben ja nicht nur in der Bibel gelesen und missioniert, die Schwestern, die sind auch rausgegangen. Die haben dafür gesorgt, dass die Frauen was zu essen kriegten. Die hatten eine stationäre Einrichtung und wenn da nachts eine vor der Tür stand, haben die nicht gesagt, wir sind voll, sondern die haben gesagt, komm rein! Und das hat mir unheimlich imponiert."

"Die Mitternachtsmission ist im Bereich Dortmund und in der näheren Umgebung inzwischen sehr bekannt geworden, und die Frauen wenden sich von alleine an uns. Wir werden aber auch informiert, gerade in Bezug auf die Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden: von kirchlichen Organisationen, aber auch von Kolleginnen, also von Frauen, die in den Bordellen arbeiten und denen auffällt, dass da eine Frau ist, die das überhaupt nicht machen möchte. Wir werden aber auch von Bordellbetreibern oder Hausbesitzern angerufen, die die mit solchen Sachen nichts zu tun haben wollen."

In ihrem früheren Leben war Gisela Zohren selbst einmal im Rotlichtmilieu tätig, jetzt arbeit sie als Sozialarbeiterin bei der Mitternachtsmission, eine von acht Hauptamtlichen. Sie werden von gut 30 Honorarkräften unterstützt, die vor allem dolmetschen, denn die Prostituierten kommen aus aller Welt.

"Jede Frau muss die Chance haben, aus der Prostitution auszusteigen", formuliert Gisela Zohren das Credo der Arbeit. Nachts ist sie oft unterwegs in Kneipen, Clubs und Bordellen, um Frauen zu beraten. Die 36-jährige Tanja etwa, die im Rahmen des Modellprojekts Profrida eine Ausbildung zur Altenpflegerin gemacht hat, finanziert vom Land NRW und der EU. Acht Jahre Prostitution haben Tanja gereicht:

"Früher konnte man da wirklich gut von leben, heute, ist meine Meinung: Manchen Arbeitern geht es besser. Die haben ihr Urlaubsgeld, wenn sie Urlaub machen, wenn sie krank sind ihr Krankengeld, das haben wir alles nicht, nein. Wenn wir nicht arbeiten, haben wir kein Geld, und man muss wirklich hart um jeden Gast kämpfen."

"Pretty Women" - die weltberühmte Kinoromanze von der schönen Hollywood-Hure, die ein reicher Traumprinz von der Straße holt. Ein Märchen, das mancher gerne glauben will. Vielleicht auch, um die Augen vor der unschönen Realität zu verschließen. Denn die sieht anders aus, wie Jutta Geißler-Hehlke täglich erlebt. Daran hat weder die sexuelle Revolution der 60er Jahre etwas geändert, noch das Prostitutionsgesetz von 2002, an dem die Leiterin der Mitternachtsmission als Beraterin mitgewirkt hat.

"Ich glaube, die Tabuisierung ist immer noch da. Es ist immer noch das schlimmste Schimpfwort zu einer Frau 'Du Hure!' zu sagen oder 'Du Nutte!'. Und das Flair, was man mit freiwilliger Prostitution und Erotik verbindet, das trifft auf diese Frauen natürlich gar nicht zu. Die werden behandelt wie der letzte Dreck, und die fühlen sich auch so. Also ich würde sagen, das ist ein Mythos, dass Prostitution jetzt mehr anerkannt ist und dass es einfacher ist, das ist einfach nicht so."

Allein 2007 hatte die Dortmunder Mitternachtsmission Kontakt zu 1800 Prostituierten, fast ein Sechstel Opfer von Menschenhandel. Insgesamt 129 Frauen haben den Ausstieg mit Schulabschlüssen und Berufsausbildungen geschafft. In diesem Anliegen ist sich der traditionsreiche Verein treu geblieben.

Völlig verändert dagegen hat sich die Klientel. Denn seit der EU-Osterweiterung sind heute etwa 80 Prozent der Prostituierten in Dortmund Migrantinnen, aus Thailand und China, vor allem aber aus Osteuropa: Zwangsprostituierte und Arbeitsmigrantinnen.

"Wir haben hier in Dortmund Eltern, die ihre Töchter verkaufen, zum Beispiel aus Rumänien, wo die Väter aufpassen, die Mütter auch in der Nähe sind, wenn die Töchter sich da auf der Straße anbieten. Und das ist ja nicht, weil das irgendwie gemeine Eltern sind oder Sadisten, sondern, weil sonst die Familie im Herkunftsland nicht überleben kann."

Auch im Sexgewerbe hat die Globalisierung unerbittlich Einzug gehalten. Entwurzelten Menschen aus christlicher Nächstenliebe die Hand zu reichen, diese alte Vision ist deshalb für Jutta Geißler-Hehlke und ihre Mitstreiterinnen so aktuell wie vor 90 Jahren:

"Ich möchte, dass so ein Ruck durch die Gesellschaft geht und man sagt: Es soll keiner vergewaltigt, gequält und gezwungen werden, und es muss was für die Frauen, für die Migrantinnen im Land, etwas getan werden, damit die nicht hierherkommen müssen und das tun. Das wäre meine Vision. Und ich hoffe, dass das im Laufe der Jahre durch die EU auch geht. "