"Nadelöhr zwischen zwei Leben"

Die Berliner Mauer in Kreuzberg 1962 - einige, die es geschafft hatten, sie zu überwinden, landeten im Lager Marienfelde.
Die Berliner Mauer in Kreuzberg 1962 - einige, die es geschafft hatten, sie zu überwinden, landeten im Lager Marienfelde. © Deutschlandradio
Helge Heidemeyer im Gespräch mit Britta Bürger · 29.12.2008
Anlässlich der Schließung des Notaufnahmelagers Berlin-Marienfelde zum Jahresende hat der Historiker Helge Heidemeyer die Ambivalenz dieses historischen Ortes gewürdigt. Marienfelde sei für viele DDR-Flüchtlinge ein schwieriger Ort gewesen, weil die Stasi versucht habe, an Informationen zu gelangen und Insassen zurückzulocken, sagte Heidemeyer.
Britta Bürger: Thilo Schmidt berichtete über die Schließung des Notaufnahmelagers Marienfelde im ehemaligen Westteil Berlins. Die seit einigen Jahren dort eingerichtete Dauerausstellung bleibt auch künftig erhalten, aufgebaut hat sie der Historiker Helge Heidemeyer, er leitet heute in der Birthler-Behörde die Abteilung Bildung und Forschung. Schönen guten Tag, Herr Heidemeye.

Helge Heidemeyer: Guten Tag!

Bürger: Die Birthler-Behörde ist zuständig für die Unterlagen des DDR-Staatssicherheitsdienstes, der ja ein gesteigertes Interesse an dem Notaufnahmelager Marienfelde hatte, ebenso wie der BND. Inwieweit waren in Marienfelde die Begriffe "Freiheit" und "Angst" unmittelbar miteinander verknüpft?

Heidemeyer: Das spielt auf die Ambivalenz des Ortes Marienfelde an. Zunächst: Die DDR-Flüchtlinge, die gerade die Grenze überschritten hatten, befanden sich in Freiheit, hatten den Druck hinter sich gelassen in der DDR, der ja sehr vielgestaltig sein konnte. Es konnte wirtschaftlicher Druck sein bis hin zu politischer, konkreter Verfolgung. Zum anderen war Marienfelde auch noch ein schwieriger Ort, weil bekannt war, dass beispielsweise die Staatssicherheit in Marienfelde immer versucht hatte, Informationen zu erlangen bis hin dazu, dass sie versucht hat, Personen wieder auf den verschiedensten Wegn in die DDR zurückzulocken.

Das alles hat in Marienfelde stattgefunden und war auch Thema da, so war beispielsweise es in den 50er-Jahren den Flüchtlingen untersagt, sich anderen Flüchtlingen mit Namen vorzustellen. Das lief alles über Nummern ab. Man war eine bestimmte Nummer. Es wurden auch nur Nummern aufgerufen in diesem komplizierten Notaufnahmeverfahren, das der erste Einstieg in die Eingliederung in die Bundesrepublik war, um eben sicherzugehen, dass die östlichen Sicherheitsdienste keinen, ich nenn es jetzt mal, Fuß in die Tür bekommen konnten bei den Flüchtlingen.

Bürger: Es war also ein Leben unter dauernder Kontrolle, ein Leben im Übergang. Wie sind die Menschen damit umgegangen?

Heidemeyer: Sehr unterschiedlich. Gerade diese Übergangsphase ist ja geprägt von zwei widerstreitenden Gefühlen, einmal der Erleichterung, dass man dem entgangen war, weshalb man die DDR verlassen hatte, und das waren ja durchaus ganz vehemente Bedrohungsgefühle, die ja eben auch einen realen Hintergrund hatten. Zum anderen war da noch eine gewisse Angst vor dem, was in Marienfelde einem vielleicht von der langen Hand des Ostens noch geschehen konnte.

Im Großen und Ganzen überwog aber doch die Erkenntnis und das Gefühl, sich jetzt hier auf sicherem Territorium, auf sicherem Terrain zu befinden, und man vertraute den Einrichtungen in Marienfelde durchaus, den Betreuungseinrichtungen und den staatlichen Einrichtungen, die alles weitere für das Leben in der Bundesrepublik und in West-Berlin in die Wege leiteten. Aber beides war noch da und es war tatsächlich, auch wenn der Begriff abgegriffen ist, ein Nadelöhr, ein Nadelöhr zwischen zwei Leben.

Und da muss man auch erst mal auf einer ganz anderen Ebene mit seinen Gefühlen fertig werden, denn die meisten Flüchtlinge hatten große Teile ihrer Familie zurückgelassen, ihre Freunde, hatten ihre Arbeitsstelle aufgegeben, und es war ja durchaus nicht so klar, was mit ihnen im Westen werden würde, ob sie Fuß fassen könnten, sozial und beruflich.

Bürger: Das Notaufnahmelager ist heute ein Erinnerungsort, der von vielen, ja sehr persönlichen Geschichten geprägt ist. Auch Prominente waren dort, Manfred Krug und Dieter Hallervorden, Winfried Glatzeder und die Schriftstellerin Julia Frank. Sie hat ihre Erfahrungen ja sehr drastisch beschrieben in dem Roman "Lagerfeuer", musste zum Teil auch harsche Kritik dafür einstecken. Welche Rolle spielten dann in Folge eigentlich die Begriffe "Dankbarkeit" und "Undankbarkeit" in diesem Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte?

Heidemeyer: Ich weiß nicht, ob Dankbarkeit wirklich eine Kategorie ist, die man auf eine solche Einrichtung wie das Notaufnahmelager Marienfelde anwenden sollte oder kann. Jeder erlebt das Geschehene auf ganz individuelle Art und Weise. Es gibt Menschen, die sehr dankbar sind dafür, dass sie dort gut aufgenommen und betreut worden sind. Es gibt auf der anderen Seite der Skala Menschen, die sich in Marienfelde überhaupt nicht wohlgefühlt haben. Das hängt mit ganz individuellen Zugängen zusammen. Aber ganz wichtig scheint mir auch zu sein der zeitliche Aspekt. Menschen, die früher, also in den 50er-Jahren, nach Marienfelde gekommen sind, haben den Ort anders wahrgenommen als Menschen, die erst in den 80er-Jahren in denselben Ort gekommen waren.

Bürger: Was hatte sich verändert?

Heidemeyer: Das Erstaunliche ist eben, dass sich wenig verändert hatte, dass sich bei gleichen Voraussetzungen in Marienfelde die Voraussetzungen oder die Erwartungen der Zuströmenden aus der DDR gewandelt hatten. Ich kann das mit einem Beispiel illustrieren. Wir haben einen unserer Zeitzeugen, der in den 60er-Jahren wild über die Grenze geflüchtet war, als Sperrbrecher, wie die DDR das titulierte, der dann gut zehn Jahre später noch mal in Marienfelde war, weil er als Fluchthelfer gearbeitet hatte und 1975 dafür in der DDR inhaftiert worden war. Der kam 1966 und 1980 nach Marienfelde und hat 1980 Marienfelde ganz anders wahrgenommen als 1966, als verstaubte, altmodische Einrichtung, während es 1966 noch - man könnte auf neudeutsch sagen - State of the Art war.

Das waren eben die Erwartungen, die auch für die DDR-Flüchtlinge nicht mehr erfüllt wurden mit der Lagersituation in Marienfelde. Gleichzeitig mit der Kritik, die die DDR-Bürger damals an dem Ort Marienfelde übten, waren die gleichzeitig schon untergebrachten Aussiedler, vor allem aus Polen kamen die damals ja, sehr zufrieden mit Marienfelde und haben sich da wohlgefühlt. Es hängt also sehr stark auch mit dem Niveau zusammen, von dem aus man dann nach Marienfelde kam.

Bürger: Das Lager wird jetzt zum Jahresende geschlossen, die Dauerausstellung in der Erinnerungsstätte bleibt erhalten. Sie ist aber nicht besonders gut besucht, obwohl das pädagogische Konzept von Fachleuten äußerst positiv bewertet wird. Sie wird auch nach der Schließung also dort bleiben. Warum wird dieser Ort nicht wirklich angemessen wahrgenommen?

Heidemeyer: Ja, das ist natürlich zunächst mal eine Frage, die Sie den Besuchern stellen müssten, aber die Lage etwas weiter weg von den Haupttouristenströmen in Berlin ist natürlich eine Problemlage. Wir arbeiten daran. Und nicht nur die pädagogischen Konzepte sind gut, dafür sprechen, dass immer mehr Schulklassen nach Marienfelde kommen und sich das anschauen, auch die Ausstellung ist - ich sage es jetzt mal ganz unbescheiden - gut. Das attestieren die Besucher und Fachleute, die nach Marienfelde kommen.

Das, was wir immer hören ist: "Ach, ist ja toll, dass es hier sowas gibt. Hätten wir gar nicht erwartet." Und das ist natürlich in gewisser Weise schon ein Problem. Das Problem ist eher der Ort, der abseits von dem liegt, was man in Berlin besucht. Da müssen wir Anstrengungen machen und ich denke, der Schritt in die gemeinsame Stiftung mit der Gedenkstätte an der Bernauer Straße, mit der Gedenkstätte Berliner Mauer zur Stiftung Berliner Mauer wird uns da auch helfen, die Besucher der Bernauer Straße beispielsweise dann noch stärker als bisher auf Marienfelde aufmerksam zu machen.

Bürger: Das Berliner Notaufnahmelager Marienfelde schließt zum Jahresende, aus diesem Anlass war der Historiker Helge Heidemeyer zu Gast im "Radiofeuilleton". Haben Sie vielen Dank.

Heidemeyer: Gerne.