Nachwirkungen der Spanischen Grippe

Ein Massensterben und kaum Konsequenzen

07:44 Minuten
Eine Schwester und mit der Spanischen Grippe Infizierte in einem Notlazarett mit Zelten auf einer Grünfläche in Brookline, Massachusetts, USA, aufgenommen im Oktober 1918.
Krankenlager 1918 in den USA: Die Spanische Grippe zirkulierte auch unter anderen Namen. Für die Alliierten war es die Deutsche Grippe oder die Hunnen-Grippe. © picture-alliance / akg-images
Von Pia Rauschenberger · 15.04.2020
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Etwa 50 Millionen Menschen sind zwischen 1918 und 1920 an der Spanischen Grippe gestorben. Doch das Deutsche Reich versuchte dieses gravierende Ereignis zu ignorieren. Warum hat eine Pandemie mit derart hohen Opferzahlen so wenig Spuren hinterlassen?
Der polnische Komponist Karol Szymanowski residierte in einem Urlaubsort am Schwarzen Meer, als er 1918 plötzlich an der Spanischen Grippe erkrankte. Die Folge: "König Roger" – ein "Meisterwerk", wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schrieb, eine Oper über den Kampf um (homo-)sexuelle Befreiung. Das Drama um einen König, einen verführerischen Hirten und die Zwänge traditioneller Religiosität habe ihm in einer schlaflosen Spanischen-Grippe-Nacht plötzlich vor Augen gestanden, schreibt Szymanowski.
Szymanowskis Oper – ein damals kühnes und heute noch aktuelles Werk, bei dem die Spanische Grippe ihre Spuren hinterlassen hat. Und sonst?
Etwa 50 Millionen Menschen sind an der Spanischen Grippe gestorben.
"Das ist ja eine enorme Zahl", sagt Wilfried Witte, Oberarzt im Evangelischen Klinikum Bethel in Bielefeld und Gastwissenschaftler der Charité Berlin. Für ihn ist es ein erstaunliches Phänomen, dass eine Pandemie mit derart hohen Opferzahlen so wenig Spuren hinterlassen hat. "WorldCat" ist die weltweit größte Datenbank mit Bibliotheksbeständen. Über den Ersten Weltkrieg gibt es dort etwa 120.000 Bücher, zur Spanischen Grippe knapp 700. Es gibt auch kein Monument oder Denkmal, das an die Pandemie erinnert.

Das Deutsche Reich wollte die Spanische Grippe aussitzen

"Für das Deutsche Reich kann man für 1918, 1920 gut beschreiben, dass wirklich versucht wurde, dieses gravierende Ereignis zu leugnen. Möglichst gar nicht damit umzugehen. Es auszusitzen", sagt Witte.
1920 wurde ein Abschlussbericht veröffentlicht, dünn und nichtssagend. Ein erstaunliches Phänomen, wenn man bedenkt, welche Fortschritte die Medizin in den zurückliegenden Jahrzehnten erzielt hatte und welche Fragen dieses Massensterben eigentlich aufwarf.
Der Medizinhistoriker Wolfgang Ulrich Eckart erklärt das so: "Es gab bedingt durch die Spanische Grippe doch eine gewisse Ernüchterung. Man muss ja feststellen, dass sich die deutsche Bakteriologie in einem unglaublichen Höhenflug vor 1914 befand. Sie war eine Wissenschaft mit Weltgeltung, war vorbildhaft, war mustergültig. Und skeptisch war man, weil man gesehen hat, dass diese hochgerühmte Bakteriologie nicht wirklich helfen konnte. Das war ja auch klar, es handelte sich ja nicht um ein Bakterium, sondern um einen Virus."

Interesse an öffentlicher Gesundheitspflege schon vor dem Virus

Die Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney beschreibt in ihrem Buch "1918 – Die Welt im Fieber", wie als Folge der Spanischen Grippe Gesundheitsminister in verschiedenen Ländern eingeführt wurden – in Russland 1920 sogar das erste zentralisierte Gesundheitssystem.
Aber, wendet Wilfried Witte ein, "es ist nicht so, dass man sagen kann, nach diesem Ereignis setzten sich die Gremien zusammen und haben beratschlagt und ganz neue Pläne gefasst. Im Gegenteil. Also besonders auffällig ist das ja tatsächlich für Deutschland, wo man sich während der Spanischen Grippe ja alle Mühe gegeben hat, die Pandemie nach Möglichkeit überhaupt gar nicht zu thematisieren."
In Europa wurde das erste Gesundheitsministerium 1918 in Österreich eingeführt. Das ist aber schon vor der Spanischen Grippe in Planung gewesen.
"Das führt zu einem großen Interesse an öffentlicher Gesundheitspflege, an Beobachtung staatlicherseits der Gesundheit. Aber das ist eine Bewegung, eine Welle, die auch ohne die Grippe stattgefunden hätte", sagt Medizinhistoriker Eckart.

Grippe beeinflusste die Entwicklung der Virologie

Eigentlich müsste ein so einschneidendes Ereignis wie die Spanische Grippe Politiker aufgeschreckt und zu gesundheitspolitischen Reformen bewegt haben, könnte man aus heutiger Sicht vermuten. Doch diese Vermutung kann die medizinhistorische Forschung nicht bestätigen, auf jeden Fall nicht für Deutschland.
Wilfried Witte glaubt aber, dass die Grippe zumindest die Entwicklung der Virologie beeinflusst hat. "Das Virus der Spanischen Grippe ist dann letztlich 1933 beschrieben worden. Und es ist auch kein Zufall, dass es in Großbritannien war und insbesondere nicht im Deutschen Reich, weil man sich in Deutschland so darauf versteifte, dass es ein Bakterium sein müsse, dass man vorher schon verantwortlich gemacht hatte und das hatte halt ein Robert-Koch-Schüler entdeckt."
Die Spanische Grippe, die gar nicht aus Spanien kam, zirkulierte auch noch unter anderen Namen. Für die Alliierten war es die Deutsche Grippe oder die Hunnen-Grippe. In Deutschland und Polen wurde sie auch "Bolschewiki-Krankheit" genannt. Sündenböcke für die todbringende Krankheit waren die Kriegsfeinde.

Pandemie führte zum Rückgang internationaler Kontakte

Die Historikerin Tara Zahra untersucht diese Dynamiken und ihre Folgen. "Ich habe zum Beispiel eine Karikatur in der 'Denver Post' gefunden. Die zeigt eine Art deutsche Hunne neben einer Figur, die die Grippe repräsentiert. Der Titel ist: zwei Seuchen, die 1919 ausgerottet wurden."
Für die Historikerin Zahra gibt es Indizien, dass die Pandemie zu einem Rückgang der internationalen Kontakte führte. "Die generelle Reaktion national und global war, Grenzen hochzuziehen, Reisen zu beschränken. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass in den USA das wichtigste Gesetz, das die Migration aus Süd- und Osteuropa beschnitten hat, dass das 1924 eingeführt wurde, aber es hatte schon vorher Form angenommen. Die Angst vor der Übertragung von Krankheiten war ein Teil dieser Geschichte."
Erst in den 1970er-Jahren sei wieder dasselbe Level globaler Migration und globalen Handelns wie vor 1914 erreicht worden. Kann man aus dieser Erkenntnis etwas für die Corona-Folgen ableiten?
"Damals war man global gesehen nicht ganz so abhängig voneinander wie heute", wendet Tara Zahra ein. Und Medizinhistoriker Eckart meint achselzuckend: "Ich halte es so ein bisschen mit Kurt Tucholsky. Der hat 1918 geschrieben: Das ist keine Grippe, kein Frost, keine Phthisis, das ist eine deutsche politische Krisis."
Nur eine deutsche...? Bleibt - "König Roger" und die Frage: ob wir eine Corona-Oper beschert bekommen. Oder ein Musical. Uraufführung natürlich: online.
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