Nachschlagewerk zum Holocaust

Ungewöhnlich an dieser Darstellung der Judenverfolgung ist, dass sie gänzlich auf Fotos oder Grafiken verzichtet und rein auf Text vertraut. Das Verfahren ist beeindruckend: Eine Vielzahl von Dokumenten zeigt, wie unterschiedlich Nazis und Juden die Ereignisse bewerteten und demonstriert kommentarlos, wie Schritt um Schritt die Entrechtung der Juden vonstatten ging.
Man nimmt diesen voluminösen Band mit einiger Skepsis in die Hand. Was kann er Neues über die Geschichte der Judenverfolgung im Dritten Reich bringen, was nicht längst erforscht und dokumentiert ist? Die Chronologie des Verbrechens, die Verantwortlichen für die Schoa, die Leiden der Opfer, die Versuche, Widerstand zu leisten oder den Verfolgten zu helfen, das ist ebenso erforscht wie die Etappen der erzwungen Auswanderung, das Leben in der Illegalität. Zudem liegen hervorragende Untersuchungen über das Verhalten von Verwaltung und Justiz vor, zur Diskriminierung und Deklassierung der jüdischen Bevölkerung sowie zu ihrer systematischen Ausraubung (Stichwort Arisierung).
Um es kurz zu machen: Dieses Buch ist ein Nachschlagewerk. Nicht, weil der "Bearbeiter", Wolf Gruner, neue Forschungsergebnisse präsentieren könnte. Sein Verdienst liegt in der besonderen Art und Weise der Zusammenstellung der Dokumente. Wer Analyse sucht, Erklärungen, Wertungen, der sollte diesen Band meiden. Er richtet sich an den "fortgeschrittenen" Leser, an den, der etwas entdecken will, und er wird neue Einsichten gewinnen über die schreckliche Normalität des Nebeneinanders in einem Verbrechensregime: Hier die Arroganz und Skrupellosigkeit der Nazis, die soeben an die Macht gelangten, dort das Nicht-Begreifen-Können der Opfer. Es ist diese konsequent über 800 Seiten durchgehaltene Parallelität der Dokumente aus dem Bereich der Täter und dem der Opfer, die auch dem Nachgeborenen ein Zeitfenster des Verstehens öffnet. Und das, obwohl der Band auf die grassierende mediale und graphische Aufbereitung verzichtet. Keine Fotos, keine Faksimiles: nur das gedruckte Wort.

Ein Konzept, das zum einen sicher den Herausgebern zu danken ist, zu denen das Bundesarchiv, das Institut für Zeitgeschichte und der Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Freiburg zählen. Zum anderen aber auch dem bescheiden "Bearbeiter" genannten Wolf Gruner, Jahrgang 1960, zuzuschreiben ist. Sein erdverbundener Werdegang vom Ostberliner Reprotechniker, spätem Studenten an der Humboldt-Universität und promoviertem Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der Berliner TU, hat sein Empfinden für das Kleine, das Menschliche, das Rührend-Naive neben dem zeithistorisch Notwendigen geschärft.

So entsteht Intensität. Beispiel: Das erste der 320 Dokumente, dass den Band eröffnet, ist der Leitartikel der Jüdischen Rundschau, der am 31. Januar 1933 auf die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler reagiert. Sein Autor analysiert den Judenhass der Hitlerpartei, aber er beschreibt auch das noch vorhandene Vertrauen in den deutschen Verfassungsstaat und er kündigt - was 1933 noch als aussichtsreich empfunden wurde - den Widerstand der deutschen Juden an, sollte Reichskanzler Hitler ihre Rechte beschneiden wollen.

Dokument zwei ist ebenfalls ein Leitartikel vom Januar 1933: aus den Nationalsozialistischen Monatsheften. Darin, so wörtlich, das "abschließende Wort zur Judenfrage". In ihm erscheint das andere, das faschistischen Deutschland, eines, das vom "unglücklichen Humanitätsideal" faselt, über den Topos der Gleichheit aller Menschen räsoniert und die Aussonderung des jüdisch "Minderwertigen" aus dem Volkskörper fordert.

Dokument drei zeigt bereits die Auswirkungen: Nicht die Partei, nicht SA oder SS, sondern biedere Bürger in Kleinstädten inszenieren Pogrome. Doch noch glauben Juden weiterhin, sich auf Polizei und Richter verlassen zu können. Die konservative CV-Zeitung, Organ des Centralvereins der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens, beruft sich auf das Reichsgericht als Hüter des Rechts. Seite für Seite verfolgt der Leser die Entwicklung, den Umbruch, den Verrat am Rechtsstaats, den Verlust der Humanitas. Man liest Protokolle jüdischer Hilfsorganisationen, Kommentare aus der New York Times, Berichte der Gestapo, Reden von Hitler.

Vielleicht wird dieser und die folgenden Bände über die Ereignisse in den von Deutschland besetzten Gebieten nicht nur dem Fachhistoriker dienen. Es dürfte ein Kompendium entstehen (zehn Jahre sind eingeplant), dass auch im nichtuniversitären, vor allem schulischen Bereich, dankbare Geschichtsarbeiter finden wird.

Abgerundet wird dies nicht nur durch einen erfreulich umfangreichen Registerteil, der Personen, Organisationen und Sachgebiete aufschlüsselt, sondern, besonders verdienstlich, in den notwendigen, aber spärlich gehaltenen Anmerkungen und Erklärungen. So erfährt man nebenbei, dass einer der beamteten Mitverantwortlichen für die Entrechtung der Juden und Teilnehmer an der Wannsee-Konferenz , die die Endlösung beschloss, Staatssekretär Dr. Wilhelm Stuckart, von den Alliierten nach dem Krieg gerade mal als "Mitläufer" eingestuft und aus das Gefängnis entlassen wurde.

Rezensiert von Günther B. Ginzel

Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945 (in 16 Bänden)
Band 1: Deutsches Reich 1933-1937

bearbeitet von Wolf Gruner
R. Oldenbourg Verlag, München 2008
811 Seiten. 59,80 EUR