Nachrufe auf Nicht-Prominente

Jedes Leben ist es wert, dass darüber geschrieben wird

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Ausrangierte Grabdekoration auf dem Friedhof am Hoernli in Riehen
Nicht nur ein Grab, sondern auch Nachrufe in der Zeitung können die Erinnerung an Verstorbene wachhalten. © picture-alliance/Keystone/Georgios Kefalas
David Ensikat im Gespräch mit Dieter Kassel  · 11.04.2020
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Der "Tagesspiegel" widmet sich in Nachrufen nicht-prominenten Berlinern, die in jüngster Zeit gestorben sind. Redakteur David Ensikat pflegt diese Form der Erinnerung seit 20 Jahren und hat dabei erstaunliche Einblicke gewonnen.
Wenn prominente Persönlichkeiten sterben, erscheinen in den Zeitungen lange Nachrufe. Einige wenige Blätter widmen sich in dieser Form auch Menschen, die weniger bekannt waren. Beim Berliner "Tagesspiegel" ist Redakteur David Ensikat schon seit rund 20 Jahren für diese Nachrufe verantwortlich und steht jedes Mal vor der Herausforderung, über Menschen zu schreiben, die er nicht kannte.
Es sei keinesfalls so, dass es mehr Anfragen gebe, als sie drucken könnten, sagt Ensikat. "Die Leute haben da nach wie vor Manschetten, denken sich, unserer war nicht wichtig genug, das Leben unseres teuren Verstorbenen war nicht besonders genug." Das sei ein Irrtum, weil jedes Leben besonders genug sei, um darüber zu schreiben.

Ehrung für Berliner

Die Leute riefen ihn an und er treffe keine Auswahl, erläutert der Redakteur. Es müssten aber Verstorbene sein, die in Berlin gelebt hätten und ihr Tod sollte etwa ein halbes Jahr zurückliegen. Ansonsten gehe es nur noch darum, dass Angehörige bereit seien, mit dem "Tagesspiegel" über die Verstorbenen zu sprechen und von ihnen zu erzählen.
Manchmal rufe er auch selbst Leute an, die unter Traueranzeigen stünden, sagt Ensikat. "Was sich schwieriger anhört, als es eigentlich ist. Das ist nicht so kompliziert – ich habe den Leuten ja eigentlich ein schönes Angebot zu machen, das nichts kostet und das den Leuten in aller Regel auch guttut." Sehr selten kämen Trauerbegleiter oder Bestatter auf die Redaktion zu.
Bei dem Gespräch mit dem Angehörigen sei es wichtig, die Informationen über die Verstorbenen abzufragen. "Das mit dem Losplaudern funktioniert so nicht." Zunächst wisse man als Interviewer nicht, wonach man konkret fragen solle. In wenigen Fällen sei die Trauerrede bekannt. "Man muss einfach vorne anfangen, unter welchen Umständen ist jemand geboren, wie ist er aufgewachsen?" Im Gespräch komme dann ein besonderer Moment, bei dem man in eine besondere Richtung abbiege und die Persönlichkeit deutlich werde.

Einblick in Lebenslügen

In manchen Fällen gebe es nach dem Erscheinen der Nachrufe Reaktionen von Menschen, die die Verstorbenen anders kennengelernt hätten, sagt Ensikat. Allerdings merke er in den Gesprächen auch manchmal schon, wenn etwas komisch sei.
Die erstaunlichste Erfahrung habe er vor rund einem Jahr gemacht, als er über einen Mann geschrieben habe, der ein falsches Leben vorgegeben habe. Erst im Nachruf hätten viele aus dessen Bekanntenkreis erstmals erfahren, dass der Verstorbene kein Deutscher war, sondern US-Bürger und zunächst für den US-Geheimdienst, dann für die Stasi tätig war. Er habe deshalb in den USA einige Jahre im Gefängnis gesessen und sei über einen Agentenaustausch später nach Berlin gekommen. "Das war eine irre Geschichte."
Von der Coronakrise seien seine Nachrufe bislang unberührt geblieben, so Ensikat. Aber das sei vermutlich eine Frage der Zeit. "Das kann schon gut sein, dass in ein oder zwei Monaten diese Geschichten sich häufen werden." Gerade erst habe er einen Nachruf über einen Mann geschrieben, der wegen der Coronapandemie nur im kleinen Kreis bestattet werden durfte. Dabei habe der Verstorbene einen sehr großen Freundeskreis gehabt und sei sehr beliebt gewesen. "Es war eine große, wirklich tolle Trauerrede bereit dafür, die konnte nicht gehalten werden." Der Nachruf erscheint nun am Ostersonntag im "Tagesspiegel".
(gem)
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