Nachrufe auf den Nachruf

Wenn Weggefährten richtig trauern

Von Arno Orzessek · 23.11.2013
"Mit ihm ist eine ganze Epoche gestorben", schreibt Helmut Dietl über den in der vergangenen Woche verstorbenen Kabarettisten Dieter Hildebrandt und nennt die Äußerungen all der anderen, die um Hildebrandt trauern "dümmlichen Schmus". Ganz groß in Mode also in den deutschen Feuilletons dieser Woche: Nachrufe auf den Nachruf. Ein wenig weniger selbstreferenziell dagegen die Beiträge über die Trauer um Doris Lessing.
"Die ARD macht sich in jede Hose, die man ihr hinhält. Und die Privaten senden das, was drin ist",
witzelte einst der Kabarettist Dieter Hildebrandt, der in der vergangenen Woche in München gestorben ist.
"Lieber Dieter, Dein Tod ist eine erstaunliche Sache, denn von uns allen warst Du immer der Jüngste. Und der Neugierigste. Und derjenige, der sich selber am wenigsten wichtig nahm",
verabschiedete sich der Berufskollege Josef Hader in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG von Hildebrandt - auf einer dieser "Weggefährten trauern um [ ... ]"-Seiten.
Weil der Filmemacher Helmut Dietl in der SZ keinen normalen Nachruf beisteuern wollte, steuerte er Folgendes bei:
"Es gibt nichts Peinlicheres als diese Nachrufe, die man jetzt dauernd liest und hört. Dieter hat NACH-RUFE nicht nötig, er hat einen RUF, der nicht vergeht. Da er noch nicht einmal im Grab ist, besteht die Gefahr, dass er sich mehrmals umdreht, wenn er diesen dümmlichen Schmus noch länger aushalten muss. Ich habe ihn verehrt und geliebt. Mit ihm ist eine ganze Epoche gestorben."
So Helmut Dietl, der es für nötig hielt, nachrufend andere Nachrufer zu diffamieren.
Dergleichen kam bei der Würdigung der verstorbenen Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing natürlich nicht vor.
"Lessing hat sich zeitlebens als eine politische Schriftstellerin verstanden, aber als eine, die aus den Versäumnissen Gleichgesinnter Konsequenzen zog und das auch von anderen erwartete. [ ... ] Das Credo aller späteren Bücher von Doris Lessing lautet, dass Veränderung beim Individuum beginnt. Das wiederum war eine Lehre, die sie verallgemeinert sehen wollte",
resümierte Andreas Platthaus in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG Lessings Wirken und Wesen.
In der Wochenzeitung DIE ZEIT verabschiedete sich Gregor Gysi von seiner Tante:
"Meine wichtigste Erinnerung an sie: Sie war eine Frau voller Güte [ ... ] und sie war eine wundervolle Mutter. Erst vor vier Wochen starb ihr Sohn Peter, den sie wegen seiner schweren Krankheit bis zum Schluss liebevoll pflegte. Ich habe das Gefühl, dass sie sich vorgenommen hatte, nicht vor ihm zu gehen. Ihr Tod schmerzt."
So Gregor Gysi, der Neffe Doris Lessings, in der ZEIT.
Noch können wir unseren Blick nicht von den Toten abwenden ... zu viele Feuilleton-Artikel befassten sich mit dem Mord an US-Präsident John F. Kennedy vor 50 Jahren.
Die Tageszeitung DIE WELT verdammte zunächst Oliver Stones Verschwörungs-Film "JFK" von 1991 als "Skandal" - die Feder führte Kennedy-Biograph Alan Posener -, gönnte sich aber zwei Tage später ein Interview mit dem Regisseur.
Und Oliver Stone nahm gar nichts von seiner Film-Botschaft zurück - dass nämlich der militärisch-industrielle Komplex für das Attentat verantwortlich war: "‘Wir haben den Punkt [damals] getroffen.‘"
Laut TAGESZEITUNG glaubt nicht einmal mehr der US-Außenminister an die Alleintäter-These, die besagt: Oswald war's und sonst keiner.
"John Kerry [berichtete die TAZ] äußerst in einem Fernsehinterview 'ernste Zweifel‘ daran, dass Lee Harvey Oswald allein handelte [ ... ]. Möglicherweise, so spekuliert der Außenminister, sei Oswald von Kuba oder der Sowjetunion beeinflusst worden. [ ... ] Aus dem Inneren des Kennedy-Clans verlautet Ähnliches. 'Ich denke, dass ich es nicht weiß‘, sagt die Demokratin Kathleen Kennedy Townsend über die Todesumstände ihres Onkels."
In der NZZ konzedierte Manfred Schneider:
"Längst besitzt die Ermordung Präsident Kennedys mythisches Format. Die ewig revidierten Theorien zum Attentat gleichen der immer neuen Lektüre einer heiligen Geschichte. Trotz einer Überfülle an Indizien entzieht sich die Wirklichkeit der Ereignisse. Darum ist der Übergang zur Literatur unvermeidlich."
Ähnlich häufig wie der Name John F. Kennedy fiel in den Feuilletons der Name Cornelius Gurlitt.
Der Mann, der in seiner Münchener Wohnung jahrzehntelang eine riesige Kunstsammlung im Verborgenen gehalten hatte, wurde von der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG per Überschrift mit einer klaren Ansage des alttestamentlichen Gottes konfrontiert: "Du sollst nicht stehlen."
Der Hintergrund: Gurlitt hatte im SPIEGEL trotzig verlautbart "‘Die Bilder sind mein Privateigentum‘" und der Justiz genauso wie der Politik beschieden: "‘Ich werde nicht mit denen reden, und freiwillig gebe ich nichts zurück.‘"
In der FAZ ging Julia Voss auf die Frage ein, ob Gurlitt denn wenigstens jene 590 Werke, die vermutlich NS-Raubkunst sind, den Erben der einst Entrechteten wiedergeben muss.
"Die bittere Wahrheit lautet: Die moralische und die juristische Frage haben nach deutschem Recht wenig miteinander zu tun. Das ist, was das Ausland und die Erbenvertreter fassungslos zur Kenntnis nehmen müssen und was ein denkbar schlechtes Licht auf die Bundesrepublik wirft. Ausgerechnet in Deutschland nämlich - im Gegensatz zu Frankreich, den Niederlanden oder Österreich - hielt man auch bei NS-Raubkunst an Verjährungsfristen fest. Nach dreißig Jahren laufen diese aus. Cornelius Gurlitt erhielt die Sammlung anscheinend 1967, als seine Mutter Helene starb. Die Verjährung [ ... ] trat also [ ... ] schon in den späten neunziger Jahren ein",
konstatierte FAZ-Autorin Julia Voss.
In der ZEIT erklärte der Historiker Götz Aly, dass international operierende Händler wie Cornelius‘ Vater Hildebrandt Gurlitt in der NS-Zeit ihre Kunstschätze letztlich illegal erbeutet hätten.
"Hitlers eifrige Kunsthändler arbeiteten in einem System bandenmäßig betriebenen Währungsbetrugs auf erpresserischer Grundlage. Deshalb ist es aus rechtlichen Gründen zu fordern, dass sämtliche Gemälde und sonstige Wertsachen, die Deutschen im Zweiten Weltkrieg im besetzten Ausland gekauft haben, an die jeweiligen Staaten zurückgegeben werden, eben weil sie (völkerrechtswidrig und unter Zwang) aus den jeweiligen Staatshaushalten bezahlt wurden." -
So viel zu den ernsten Dingen. -
Zum Schluss noch dies:
In ihrer Wochenendausgabe erwähnte die FAZ eine Kunstrichtung, die sogar ihren Liebhabern säuerlich aufstoßen wird - nämlich "Die Kunst des Sodbrennens".
Wer nun glaubt, solche Schnapsideen gehörten ins Reich der psychischen Störungen, mag sich von der WELT bestätigt fühlen. Sie titelte:
"Der Neurosenkavalier bittet zum Tanz."