Nachruf

Die vier Leben des Ralph Giordano

Ralph Giordano (1923−2014)
Der Schriftsteller Ralph Giordano starb am 10. Dezember 2014 im Alter von 91 Jahren. © picture alliance/dpa/Angelika Warmuth
Von Andreas Baum · 10.12.2014
Nach dem Krieg wollte Ralph Giordano nur in Deutschland bleiben, um sich zu rächen an denen, die seine Familie drangsaliert hatten. Doch die demokratische Republik zu verteidigen, wurde seine Lebensaufgabe. "Die Humanitas ist unteilbar", das war sein Credo.
"Ich bin davongekommen, mehrfach, und vieles davon bleibt für mich ein Mirakel, ein Wunder. Ich habe mich nicht verbittern lassen, trotz allem, was war. Sondern mir meine Fähigkeit, mich zu freuen, zu lachen, zu lächeln, erhalten. Gott sei Dank."
Ralph Giordano wusste, dass sein Leben, sein Überleben, historisch eine Ausnahme war. Die Wahrscheinlichkeit, dass er mit seiner Familie das Dritte Reich überstehen würde, war grausam gering. Bis zur Befreiung durch die Briten im Mai 1945 konnte er sich mit seinen Brüdern und seinen Eltern in einem Keller in Hamburg verstecken – monatelang in absoluter Dunkelheit, am Ende wurden die Ausgezehrten und Verzweifelten von Ratten angenagt. Aber es gelang ihnen zu überleben – und die Mutter vor der Deportation zu bewahren. Der junge Giordano war in den Jahren zuvor drei Mal von der Gestapo verhaftet und misshandelt worden.
Verhaftung und Verbringung ins Stadthaus, Sitz der Gestapo-Leitstelle Hamburg, am Ende von Verhören, der Topos einer übermächtigen, von gnädigen Ohnmachten unterbrochenen Sehnsucht, die dem Delirierenden zwischen Leben und Tod als höchstes Glück vorgaukelte: ungeboren bleiben, nie, niemals geboren zu werden.
Tiefe Verletzungen durch die Kameraden
Giordanos Mutter war, getaufte Christin, eine jener Deutschen, die von den Nazis erst zu Juden gemacht wurden. Ihre Ehe mit Giordanos Vater galt seit den Nürnberger Rassegesetzen als "privilegierte Mischehe", die Kinder waren so genannte "jüdische Mischlinge". Zeit seines Lebens war Giordano von der Erfahrung geprägt, jederzeit eines gewaltsamen Todes sterben zu können – seiner jüdischen Mutter wegen. Im Dritten Reich hatte er erlebt, wie Juden Schritt für Schritt zu rechtlosen Wesen herabgestuft wurden. Die ersten tiefen Verletzungen aber kamen aus einer Richtung, die er nicht erwartet hätte – die Spielkameraden schnitten ihn, im Sommer 1935. Ralph Giordano war zwölf Jahre alt:
"Mein bester Freund, den ich für meinen besten Freund hielt, Heinemann, er sagte, Ralle, mit dir spielen wir nicht mehr, du bist Jude. Das letzte Wort lauter. Es war wie eine Hinrichtung. Die Welt blieb stehen."
Giordano hat seine Erlebnisse als Jugendlicher und junger Erwachsener in seinem Roman "Die Bertinis" verarbeitet, der 1982 erschien. Auch seine erste Liebe war vergiftet von der Ausgrenzung und der alltäglichen Gefahr, die dem so genannten Halbjuden drohte, wenn er sich mit arischen Mädchen traf, meist im Dunklen, um nicht erkannt zu werden. Als er seiner ersten Freundin gestand, dass eine Mutter Jüdin sei, verließ sie ihn, sofort:
"Der Stoß durchbohrte ihn bis in die Mitte, traf sein Innerstes und verwandelte ihn auf der Stelle in einen Bluter des Misstrauens, der Panik und der Furcht vor Liebe."
Der Verzicht auf Vergeltung
Nach dem Krieg wollte Ralph Giordano nur so lange in Deutschland bleiben, bis er sich gerächt hatte an denen, die die Familie drangsaliert und verraten hatten – drei Mal, so beschreibt er es in seiner Autobiografie, richtete er eine Waffe auf Helfershelfer der Gestapo, in der festen Absicht zu töten, und drei Mal gelang es ihm nicht, abzudrücken. Er verzichtete auf Vergeltung – und blieb im Land der Täter, wurde Journalist, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, und schrieb, zunächst für die "Allgemeine Jüdische Wochenzeitung", später für viele andere Blätter:
"Ich habe mir bei der Befreiung geschworen, überall, wo mir dieser Ungeist begegnet, der den Meinen und mir und vielen Millionen anderen das eingebracht hat, wir haben ja immer noch überlebt, trete ich ihm entgegen, ganz egal, wie, wo und unter welchen Bedingungen."
Giordano wurde Kommunist, seine frühen Texten sind geprägt von der Verehrung des jungen Schriftstellers für Josef Stalin. Er blieb in der KPD, noch als die Partei in die Illegalität gedrängt wurde, distanzierte sich später aber von ihr. 1961 erschien sein Buch "Die Partei hat immer recht", seine persönliche Abrechnung mit dem Stalinismus:
"Mit dem Absprung von der Partei war ich auf beiden Augen sehend geworden und ich hatte etwas sehr Wichtiges erkannt. Die Humanitas ist unteilbar. Überall, wo Menschenrechte verletzt werden, muss dagegen angegangen werden, unabhängig von persönlichen Sympathien und Antipathien oder Ideologien."
Sein viertes Leben und "Die zweite Schuld"
Diese Überzeugung lebte Giordano auch in seinem, wie er es nannte, vierten Leben – nach der Kindheit, den Verfolgungen der Jugend und nach seinen politischen Irrtümern der Nachkriegszeit. Zwischen 1961 und 1982 bereiste er als Autor zahlreicher Dokumentationen die ganze Welt – und musste 59-jährig damit aufhören, weil seine Flugangst so übermächtig geworden war, dass er kollabierte. Nachdem er sich als Fernsehmann zur Ruhe gesetzt hatte, begann sein Leben als Publizist. Allein in den Jahren zwischen 1986 und 2006 erschienen 17 Bücher von ihm – über die deutsche Vergangenheit, die für ihn nie vergangen war, die deutsche Teilung, den Nahostkonflikt, den Mord an den Armeniern.
Vielleicht sein wichtigstes: "Die zweite Schuld", eine bittere Klage 1987 über die lang anhaltende Abwehr der Deutschen, sich der Verantwortung für die Verbrechen der NS-Zeit zu stellen.
Irritiert waren viele, als er gegen den Bau einer Moschee in seiner Heimatstadt Köln protestierte. Er erwiderte:
"Ich bin kein Türkenschreck. Ich bin kein Antimuslim-Guru, ich habe nicht zum Bürgerkrieg aufgerufen, es richtet sich nicht gegen die Muslime. Sondern es richtet sich gegen eine unheimliche Kraft, die das zerstören will, oder angreifen will, was mir kostbar ist. Nämlich die demokratische Republik, der demokratische Verfassungsstaat."
Diesen zu verteidigen, das wurde seine Lebensaufgabe:
"Sie können das als politisches Testament lesen."
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