Was vom Leben bleibt

Nachlassverwerter sorgen im Auftrag der Erben dafür, dass verwaiste Wohnungen besenrein übergeben werden. Ein Job, der in intimste Winkel des vergangenen Lebens führt.
"Als erstes mal die Balkontür aufmachen, brauch´ ein bisschen frische Luft, die steht schon seit ein paar Tagen. Es riecht schön, Blüten, Vorhänge auf, damit wir mehr Licht haben."
Braun, beige und grau, das sind die Farben, die Hans-Jürgen Heinicke in diesem Wohnzimmer empfangen. Korktapete, Eichenholz-Schreibtisch, Eichenholz-Bücherschrank, Sessel. Heinicke steht mit Trekkingschuhen auf einem Perserteppich. Es ist die Bühne eines vergangenen Lebens.
"Es war eine Dame, die über 90 Jahre alt geworden ist und jetzt muss das alles irgendwie raus geräumt werden. Es gibt nur Anhaltspunkte, anhand von ein paar Fotos, dass sie gerne Segeln gegangen sind, es wurde viel gereist - mehr weiß ich bis jetzt auch noch nicht."
"Wir fleddern keine Leichen"
Er zögert kurz, dann strafft er seinen schlanken Körper. Er darf nicht sentimental werden, wenn er hier etwas verdienen möchte. Die Erben haben ihm den Inhalt verkauft. Sein Job, auch wenn das manche eigenartig finden.
"Ja wir fleddern keine Leichen, sondern wir kriegen den Auftrag, die Dinge zu erledigen, irgendeiner muss es ja machen."
Eine Zwei-Zimmer-Wohnung im gediegenen Berliner Südwesten, 45 Quadratmeter, erster Stock. Ein 60er-Jahre Bau. Heinicke blickt sich um.
"Der kleine Flur, naja der kleine Spiegel mit den zwei Wandarmen, das landet auf dem Trödelmarkt."
Den Reflex zu denken, das kann man doch noch brauchen, hat er sich gründlich abgewöhnt. Und mal ein Buch darüber geschrieben. "Was vom Leben übrig bleibt, kann alles weg" war der Titel. Ganz schön hart.
"Was sich Leute anschaffen, wo sie ihr Glücksgefühl dranhängen - manches sieht man ja auch mit Verachtung. Eigentlich tun mir die Leute leid, weil sie am Leben vorbeigehen mit ihren Vorstellungen."
Im privatesten Winkel einer 90-Jährigen
Eine halbe Drehung nach links, dann steht er schon fast in der engen Küche. Im weißen Hänge-Schrank ein paar Porzellanteile. KPM. Könnte was sein. Er stellte sie auf die Seite. Ansonsten:
"Die Schränke, die Waschmaschine, Kühlschrank, das muss alles raus, das ist alles Technikschrott."
Seit 30 Jahren macht Heinicke das, sein halbes Leben. Geht in die Wohnungen von Leuten, die er nur durch ihre Hinterlassenschaften kennen lernt. Da ist mehr als nur Geschäftsinteresse im Spiel. Er hält den Deckel einer feinverzierten Butterdose hoch.
"Manche Sachen sind so spannend, die muss man eine bestimmte Zeit haben. Ich kann sie nicht sammeln und ich will damit auch überhaupt nicht erst anfangen. Aber ich muss die ein halbes Jahr ungefähr zu Hause haben, bis die Glut erkaltet ist. Und dann ist es reif und kann auch weggegeben werden (lacht)."
Im dämmrigen Schlafzimmer geht der Wohnungsauflöser systematisch durch die Schubladen im Schminktisch. Die privatesten Winkel der 90-Jährigen. Nach Verachtung sieht das nicht aus, wie Heinicke mit seinen schmalen Fingern herumtastet. Eher zart. Als ob er erfühlen möchte, was die Leute an den Sachen so toll fanden.
"Eine falsche Perlenkette."
Heinickes Blick wandert auf das Bett, in dem die alte Dame vielleicht ihre letzten Nächte verbracht hat. Ein polnischer Kollege wird versuchen, es im Osten loszuwerden. Genau wie die Pelze im Schrank. Die Arbeit so nah am Tod prägt Heinickes Einstellung zum Leben.
"Man weiß das Leben, die Gegenwart viel besser zu schätzen, weil man ja jeden Tag sieht, dass alles zu Ende geht."
Hier ist er durch, das größte Zimmer fehlt noch. Das Wohnzimmer. Die Eichenholzmöbel, altdeutsch, - ein klarer Fall für Polen. Im Schrank - wie so oft die Klassiker.
"Alles vergeht und wir rennen hinterher"
Ein paar Bände wählt er aus. Ein Zigarettenbildchen-Album mit Schauspielern aus den 40ern, Privatfotos vom Strand. Er legt sie auf den niedrigen Sofatisch. Langsam wächst dort eine skurrile Sammlung. Reich wird Heinicke heute nicht. Aber er weiß, was die alte Dame im September 1978 gegessen hat. Beim Ausflug mit dem Bootsclub.
"Grilltomate Broccoli in Nussbutter, Kartoffelkroketten, Zitronrnsorbet mit spritzigem Moselriesling aufgefüllt. Hotel Schweizerhof 1978."
Fehlt nur noch der Schreibtisch - der letzte Ort, an dem sich manchmal doch noch etwas findet.
"Ja, jetzt haben wir so ziemlich alles durch."
Die Erben haben eine Dokumentenmappe zurückgelassen. Leder, mit rotem Satin ausgeschlagen. Darin liegt ein einzelnes vergilbtes Blatt. Ein Zeugnis der früheren Bewohnerin.
"Sprachen: Englisch Kisuaheli. Kurzschrift mit Erfolg teilgenommen. Frau Hellen ist für haus- und pflanzwirtschaftliche Arbeiten in den Kolonien gut geeignet. Na immerhin! Koloniale Frauenschule."
Was für ein Leben, dass er da entsorgt. Von den Erben weiß man, wie schnell die Gier sie überwältigt. Bei Heinicke hat die jahrelange Beschäftigung mit den letzten Besitztümern das Gegenteil bewirkt. Keine Enttäuschung im Gesicht, als er die Schubladen schließt. Eine noch. Dann lächelt er. Da ist noch was.
"Ja, ein Metronom, tick, tack, tick, tack. Alles vergeht und wir rennen hinterher."