Nachkriegsarchitektur

Ein Leben ohne Kreuzungen

Zwei Radfahrer überqueren eine Kreuzung an einer Hauptstraße in Berlin.
In Bielefeld-Sennestadt undenkbar: Zwei Radfahrer überqueren eine große Kreuzung an einer Hauptstraße. © picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg
Moderation: Stephan Karkowsky |
Hans Bernhard Reichow träumte von einer Stadt ohne Kreuzungen - und Menschen, die sich im Verkehr nur triebhaft gesteuert bewegen. Visionen und Denkfehler des Architekten erklärt der Fotograf Arne Schmitt.
Stephan Karkowsky: Am Sonntag beginnt in Bielefeld-Sennestadt unter dem Titel "Vor Ort" eine Ausstellung im öffentlichen Raum. Thematisiert wird das Städtebauprojekt Sennestadt des Stararchitekten Hans Bernhard Reichow aus den 50er-Jahren. Diese verästelte Stadt hat den Fotografen Arne Schmitt nun zu einer Ausstellung angeregt. Seit Jahren bereits fotografiert er Nachkriegsarchitektur in westdeutschen Städten. Herr Schmitt, guten Tag!
Arne Schmitt: Guten Tag, hallo!
Karkowsky: Sie haben einen Bildband rausgegeben, der heißt "Wenn Gesinnung Form wird", und da erfassen Sie in eher kontrastarmen Schwarz-Weiß-Bildern all das, was Touristen vermutlich niemals fotografieren würden, nämlich die graue Betonarchitektur der Nachkriegszeit: Moderne Funktionsbauten, fast überall sind Autos zu sehen, aber selbst die Fußgängerunterführungen, für Menschen geschaffen, wirken menschenfeindlich. So richtig schön sind Ihre Motive nicht, oder?
Schmitt: Ja, das ist Ansichtssache. Also sie tragen natürlich ein starkes Stigma, und das ist unter anderem auch ein Grund, warum sie mich so fasziniert haben, dass es scheinbar völliger Konsens ist, über mehrere Generationen hinweg, dass diese Architektur hässlich und menschenfeindlich und nicht lebenswert ist. Ich sehe das durchaus differenziert.
Ich kann die Ästhetik von einer rohen Betonfassade rein sinnlich wertschätzen, und gleichzeitig finde ich auch, dass man den Gebäuden Unrecht tut oder auch zum Beispiel diesem Buch Unrecht tut, wenn man es nur auf Beton und auf dieses sehr Rohe runterbricht, weil letztlich spielen Glas und Stahl in der Zeit eine mindestens genauso große Rolle, und Betongebäude ist auch nicht Betongebäude.
"Ein prominenter Gedanke: der Luftkrieg als eine Art Segen"
Karkowsky: Sie haben diesen schönen Begriff verwendet "Kunst des Möglichen" für den Städtebau der Nachkriegszeit. Steht Sennestadt dafür prototypisch?
Schmitt: Ja, die "Kunst des Möglichen" ist ein Begriff, den Fritz Schumacher geprägt hat, ein Städteplaner, der seit den 20er-Jahren und bis in die Nachkriegszeit sehr einflussreich war in Deutschland. Und der verweist einfach auf die extreme Zweckgebundenheit von Städteplanungen, jetzt im Gegensatz zur Architektur, wo ästhetische Fragen sehr viel mehr im Vordergrund stehen können zum Beispiel.
Also ich habe eher den Eindruck, dass Sennestadt eine Art Ausnahme bildet in der Hinsicht, dass die Siedlung quasi auf grüner Wiese geplant werden konnte, das heißt, der Architekt und Städteplaner Hans Bernhard Reichow musste sich nicht rumschlagen mit historischen vorhandenen Strukturen und musste nicht diese Entscheidung fällen, die ja zum Teil anstand, ob man einfach sagt Tabula rasa und man fängt noch mal neu an und reißt quasi die Ruinen der Städte komplett ab.
Karkowsky: Die alten Fachwerkhäuser, die damals noch standen?
Schmitt: Zum Beispiel die paar Fachwerkhäuser oder auch die Gründerzeitbauten, das war ja durchaus gerade in der Städteplanung ein prominenter Gedanke, dass quasi der Luftkrieg eine Art Segen war und man dachte, jetzt hat man endlich mal Platz, um wirklich neue und zeitgemäße Städte zu bauen. Und in Sennestadt war all das nicht nötig, weil die Stadt Bielefeld oder ein unabhängiger Verein von der Stadt eigentlich angefangen hat, diese Siedlung zu planen aufgrund der großen Wohnungsnot und sich eben dieses Gebiet ausgesucht hat am Teutoburger Wald, wo erst mal noch nichts war außer sandiges Land.
"Anleihen bei der englischen Gartenstadt"
Karkowsky: Und da kam dieser berühmte Architekt und hatte eine Vision, er wollte Sennestadt bauen als lebenswert, als organische Stadt. Ist ihm das gelungen?
Schmitt: Erst mal würde ich sagen, ja. Wenn man sich vorstellt, dass die meisten Menschen zu der Zeit tatsächlich in noch relativ ausgebombten bzw. gerade erst im Wiederaufbau sich befindenden Städten gelebt haben, und da ist natürlich dieser Gedanke dieser Siedlung im Grünen und ausschließlich geprägt von neuen Häusern, die auch dem technischen Standard entsprachen, erst mal sehr attraktiv.
Und dieses Straßennetz, was ihm quasi so wichtig war, und diese Naturnähe der Siedlung ist schon was, was heute noch spürbar ist, wenn man da spazieren geht.
Karkowsky: Wie würden Sie denn den Begriff organische Stadt eigentlich definieren, das ist ja keine Stadt, die organisch gewachsen ist, sondern ganz im Gegenteil.
Schmitt: Genau. Reichows ideologische Grundlage und auch praktische Grundlage für den Städtebau ist sehr vielteilig. Also er hat Anleihen bei der englischen Gartenstadt, die schon im späten 19. Jahrhundert entwickelt wurde, es gibt modernistische Elemente, zum Beispiel die strenge Trennung von Wohnen und Arbeiten und dadurch also ein sehr sauberes und reines Wohnklima. Und es gibt eben bei Reichow sehr prominent die Idee dieses Straßennetzes, das sich, wie wir das eben gehört haben, verästelt, das heißt, das der Struktur eines Blattes oder natürlichen Strukturen ähnelt, weil es quasi von den breitesten Straßen immer weiter sich aufästelt zu immer kleineren Straßen, die dann eben auch immer weiter entfernt sind von den breiten Hauptverkehrsstraßen.
Das heißt, damit einher geht auch die Vorstellung, dass man sich quasi sehr intuitiv und instinktiv in dieser Stadt bewegen kann, indem man immer erkennt, aha, die Straße wird breiter, ich nähere mich irgendwie dem Zentrum, oder die Straße wird schmaler, und ich nähere mich immer mehr dem Wohnbereich.
"Verquer zur menschlichen Wahrnehmung"
Karkowsky: Sie hören den Fotografen Arne Schmitt, der am Sonntag in Bielefeld-Sennestadt eine Ausstellung eröffnet namens "Vor Ort". Herr Schmitt, dann meinen Sie, das Reichow-Konzept hat funktioniert, vor allem das ja doch sehr ungewöhnliche Konzept, eine Stadt zu schaffen, die keine Kreuzung hat, sondern nur Einmündungen?
Schmitt: Ich glaube, es hat in dem Sinne nicht funktioniert. Das sieht man auch einfach heute daran, wenn man da rumläuft, dass trotzdem natürlich an jeder Straße das berühmte Vorfahrtsschild steht und es auch einige Ampeln gibt. Und na ja, dieser starke Idealismus von Reichow und gleichzeitig seine wahnsinnige Skepsis gegenüber dem Intellekt, die hat, glaube ich, einfach nicht funktioniert und kann nicht funktionieren.
Sein Diktum ist quasi, der Mensch soll im Verkehr so gut wie nur triebhaft gesteuert sich bewegen, das heißt, er soll überhaupt nicht mit Kreuzungen konfrontiert sein, sondern nur mit diesen Einmündungen, und dadurch quasi die Vorfahrtsregel so auffassen, dass er sich quasi in Sicherheit bringt beziehungsweise nicht in Gefahr bringt.
Und das ist einfach eine Vorstellung, glaube ich, die verquer steht zur menschlichen Wahrnehmung, die Herausforderung braucht oder die nicht einfach so abgeschaltet werden kann, und man fließt halt, wie er es sehr poetisch ausdrückt, wie ein Blatt so den Strom des Bachs, der Straße entlang. Und da ist, glaube ich, der Denkfehler oder der falsche Idealismus von Reichow angesiedelt.
"Extreme Trennung der verschiedenen Verkehrsarten"
Karkowsky: Man muss kein Museum betreten, um ab Sonntag Ihre Bilder "Vor Ort" zu sehen, die werden öffentlich ausgestellt auf Werbetafeln. Was genau gibt's zu sehen? Kritisieren Sie das Reichow-Konzept darauf?
Schmitt: Nee, das würde ich nicht sagen. Darauf zu sehen sind zwölf Abbildungen insgesamt, davon sind drei von mir fotografierte Ansichten – die Einwohner der Stadt und die Ausstellungsbesucher werden die vielleicht erkennen – und neun historische Abbildungen aus Reichows berühmtem Buch "Die autogerechte Stadt", aufgrund dessen ich auf ihn aufmerksam geworden bin. Das sind einfach sehr emblematische Motive.
Zum Teil sind es alte Fotografien, mit denen er seine Theorien belegt – also eines zum Beispiel hat die sehr schöne Bildunterschrift "Die alles fressende ungegliederte Urstraße" und zeigt eine Szene in, sieht aus wie Mittelamerika, wo auf einer Straße so eine Art Feldweg ist, sich sowohl ein Pferd mit Reiter als auch ein frühes Automobil begegnen.
Das sind quasi Fragen, die, glaube ich, wenn man in der Sennestadt wohnt oder sich dort bewegt als Ausstellungsbesucher, sofort klar werden, dass dieses extrem ausgebaute Fußgängernetz, das in anderen Bildtafeln dargestellt ist, auf eine extreme Trennung der verschiedenen Verkehrsarten setzt. Und das ist zum Beispiel was, was bis heute die Sennestadt sehr prägt und was vielleicht auch auf den übrigen Städtebau und Siedlungsbau der BRD so ausgestrahlt hat von Reichows Ideen.
"Geschmeichelt oder auch provoziert?"
Karkowsky: Es gibt rund 21.000 Einwohner in Sennestadt, was hoffen Sie denn, wie die reagieren auf die Ausstellung – eher geschmeichelt oder auch provoziert?
Schmitt: Ach, ich würde es gar nicht so wertend begreifen. Ich erhoffe mir eigentlich, dass die Motive – und es sind auch Texte dabei – durchaus geeignet sind, auch Menschen, die sich nicht aus irgendwelchen entweder künstlerischen oder architektonisch-städtebaulichen Gründen schon mal mit der Materie beschäftigt haben, dass es denen quasi trotzdem möglich wird, ihr eigenes Umfeld, in dem sie täglich leben und das man dadurch ja selten befragt oder hinterfragt, einfach noch mal in einem anderen, vielleicht historischen oder vielleicht eben auch städtebaulichen Licht zu sehen so. Das ist vielleicht meine zentrale Perspektive auf die Wirkung dieser Arbeit.
Karkowsky: Arne Schmitt, Ihnen danke für das Gespräch. Der Fotograf stellt gemeinsam mit anderen Künstlern seine Werke ab Sonntag aus im öffentlichen Raum von Bielefeld-Sennestadt.
Wenn Sie seine Bilder einmal anschauen wollen, dann können wir Ihnen zwei Bildbände nennen: Der eine heißt "Wenn Gesinnung Form wird", der andere "Geräusche einer fernen Brandung", beide Bildbände von Arne Schmitt sind erschienen im Verlag Spector.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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