Nachgezeichnete Verbrechervisagen

Von Jens P. Rosbach |
Die Polizei setzt bei der Fahndung nach Verbrechern dann auf Phantombilder, wenn Zeugen den Täter unmaskiert gesehen haben. Doch sich ein Gesicht im Bruchteil von Sekunden einzuprägen, ist äußerst schwierig. Zwar kann die Phantombildzeichnerin Annette Bruns bei ihrer Arbeit auch auf modernste Computertechnik zurückgreifen, oft gelingt es ihr aber erst durch stundenlange Gespräche, dem Gedächtnis der Zeugen auf die Sprünge zu helfen.
"Das ist eine spezielle Software zur Erstellung von Phantombildern. Und da sehen Sie ja verschiedene Startbilder, also verschiedene Gesichtsformen. Und wir beginnen mit der Gesichtsform, die der Zeuge am ähnlichsten empfindet. Und dann rufe ich zum Beispiel verschiedene Frisuren auf und der Zeuge entscheidet dann - blonde Haare, Seitenscheitel, mittellang - welche Frisur am ähnlichsten ist. "

Landeskriminalamt Berlin, im "Kompetenzzentrum Kriminaltechnik". An einem Computer: eine Frau in zivil. Mit halblangen sandfarbenen Haaren, Bluejeans und hellblauem Flausch-Pulli. Annette Bruns, 46 Jahre, Phantombildzeichnerin.

"Also die meisten Zeugen sagen: Also an die Nase können sie sich nicht so genau erinnern, außer bei ganz extremen Fällen, wenn sie ganz groß war oder ne Stupsnase, die meisten sagen dann immer: Naja, die Nase sah ganz normal aus. Und jetzt zeige ich Ihnen mal, was in unserer Kategorie "Nase normal", wie viel wir da allein schon haben. Da sind schon 103 Nasen drin. "

Die Expertin lässt Knollennasen, Hakennasen und Himmelfahrtsnasen an der digitalen Skizze durchlaufen, per Mausklick, wie bei einer Diashow. Dann folgen hunderte Lippen, Ohren und Augenpaare.

"Wenn zum Beispiel der Zeuge die Augen nicht beschreiben kann, dann gibt das nicht viel her. Da haben Sie zwar die Frisur und die Gesichtsform, aber den Täter wieder zu erkennen, das ist sehr, sehr schwierig. Weil Frisuren kann man ja auch immer wieder verändern, aber der Augenausdruck oder die Augenform, Augenfarbe, die bleibt ja. Und ich finde, das ist sehr wesentlich für ein Phantombild. "

Die Bildschirmarbeit ist Routine. Für Annette Bruns besteht die Herausforderung eher im Ausfragen der Zeugen - die zwei, drei Stunden neben ihr am Computer sitzen. Die Phantombildzeichnerin erkundigt sich möglichst einfühlsam nach Tatumständen und Lichtverhältnissen, damit sich die Leute besser erinnern.

"Die Situation ist natürlich erschwert, wenn der Zeuge angetrunken ist oder Sie können sich ja vorstellen, wenn jemand von der Straße kommt und sich ne Woche … oder nicht die Möglichkeit hat, sich zu waschen, dass das nicht immer angenehm ist. Kann manchmal ganz schön schwer sein. "

Manchmal fangen Zeugen auch an zu weinen, denn häufig sind sie zugleich Opfer - Opfer eines Mordversuchs oder einer Vergewaltigung.

"Und das ist oft ne Situation, ich meine, das ist für uns natürlich gut, weil wenn wir feststellen, dass das Bild des Täters so viel Emotionen wachruft, dann wissen wir natürlich, dass das gut geworden ist. Weil das ist dann natürlich sehr gegenwärtig. Also das Bildnis des Täters ist sozusagen fünfzig Zentimeter entfernt auf dem Bildschirm. "

Ist das Computerbild fertig, beginnt Annette Bruns auf dem Ausdruck zu zeichnen, um dem Gesicht Ausdruck zu verleihen.

"Also dass wir mit dem Bleistift ganz auf herkömmliche Art und Weise noch halt Schatten einzeichnen, Falten oder besondere Merkmale. Und das kann ich weitaus besser in der Zeichnung darstellen als im Computer. "

Annette Bruns zeichnet die "Verbrechervisagen" häufig von Anfang an mit der Hand und verzichtet vollständig auf die Software - etwa wenn die Zeugen von den Monitor-Gesichtern irritiert sind. Aber das ist noch nicht der ganze Job. Die studierte Grafikerin muss manchmal auch Tote portraitieren und Tatorte skizzieren.

"Wenn dort noch jemand liegt, der gerade ermordet wurde, da muss man ja auch erst mal mit klar kommen. Ich mein, das ist ne Person, die hat vielleicht vor einer Stunde noch gelebt und da … macht man sich dann schon Gedanken. Da denkt man dann auch noch nach Feierabend dran. "

Ortswechsel. Eine Berliner Altbauwohnung mit Stuck und Dielen. Auch hier, bei sich zu Hause, zeichnet Annette Bruns – aber ganz andere Bilder. Künstlerische Bilder. Die Grafikerin legt eine Kaltnadelradierung auf den Wohnzimmertisch, eine Radierung, die eine dunkle, pferdekopfähnliche Maske darstellt. Mit tief liegenden, schwarzen Augenhöhlen.

"Ich hatte ne ganz entsprechende Stimmung, musste mich da … Sie müssen sich vorstellen, bei einer Kaltnadelradierung ritzt man mit 'ner Stahlnadel in ein Zinkblech und da braucht man sehr viel Kraft. Und da musste ich mich irgendwie so halt verausgaben oder meine ganze Stimmung da rein bringen. "

Andere Drucke zeigen stahlfarbene Blumen, stachelige Bäume und kalte Engel: Annette Bruns setzt sich viel mit Tod und Verfall auseinander. Wobei sie selbst manchmal nicht genau wisse, erklärt sie, wie die Motive im Einzelnen mit ihrem Job zusammenhingen. Bei der Pferdekopfmaske sei das aber klar.

"Ich weiß halt, wann ich das gemacht habe. Das war halt abends, nach der Arbeit, und ich kann auch nicht mehr sagen, was da vorgefallen ist. Aber ich denke schon, dass da ein Bezug ist, dass man sich auch was erlebt habe, dass ich das dann auch entsprechend ausdrücken muss. "

Die Grafikerin präsentiert ihre Arbeiten auch auf Ausstellungen, sogar im Ausland. Aber ganz und gar, "nur" als Künstlerin zu arbeiten, kann sich die Phantombildzeichnerin nicht vorstellen. Dafür sei der Job bei der Polizei einfach zu aufregend.

"Natürlich ist schlimm, wenn Sie an einen Tatort gehen und da ist jemand halt ermordet worden und die Schicksale, die damit verbunden sind. Aber auch mit den Zeugen oder Opfern, das ist schon was Persönliches, was man erfährt, was die einem erzählen. Aber das möchte ich wirklich nicht missen. "