Nachfolgefragen auf dem Grünen Hügel in Bayreuth

Von Manfred Eichel |
Wahrscheinlich hätte Richard Wagner an seinem Enkel Wolfgang seine helle Freude gehabt. Denn mit einer Zielstrebigkeit sondergleichen - über die der große Komponist ja ebenfalls reichlich verfügte - hat nun auch der Enkel sein Ziel erreicht: Er hat seine 29-jährige Tochter Katharina als seine Nachfolgerin vermutlich fest etabliert.
Und seine verhasste Nichte Nike hat er damit erst mal aus dem Rennen geschlagen. Dafür nahm er listig in Kauf, dass Eva, eine andere Tochter aus seiner ersten Ehe zunächst mal eine Weile mitspielen darf. Doch die ist 63 und damit mehr als doppelt so alt wie seine Lieblingstochter, die Katherina. Sollten die Schwestern zusammen mit Thielemann, dem Dirigenten, erwartungsgemäß gewählt werden, wird Eva vermutlich sehr viel eher als ihre Schwester wieder aussteigen – aus ganz schlichten Altersgründen.

Allerdings: Manche Wagners werden sehr alt – der Spielemacher Wolfgang hat sich diesen genialen Schachzug am Tag vor seinem 89. Geburtstag geschenkt: Zum 31. August dieses Jahres will er nun, sagte er, die Leitung der Bayreuther Festspiele abgeben. Die hat er – seit 1951 - 57 Jahre lang verantwortet und seit dem Tod seines Bruders Wieland im Jahre 1966 ganz allein. Es gibt keinen anderen Festivalchef auf diesem Globus, der da mitziehen könnte – und keinen, der sich so unverrückbar installiert hat: Vor gut zwanzig Jahren hat er es dann auch noch geschafft, sich auf Lebenszeit an den Chefsessel zu ketten. Die Lösung drängender Zukunftsfragen hat er verhindert. Selbst den hilfswilligen Mäzenaten-Verein der "Gesellschaft der Freunde von Bayreuth" hat er verärgert – und die zur Untätigkeit verurteilte Landesregierung Bayerns natürlich auch.

Ein neues Kapitel einer beispiellosen Familienfehde ist damit aufgeschlagen. Der Journalist Jonathan Carr, Deutschland-Korrespondent verschiedener englischer Blätter und leidenschaftlicher Bayreuth-Besucher seit fast vierzig Jahren, hat das Hin und Her, das Hauen und Stechen zwischen Geschwistern und zwischen Eltern, Kindern und Angeheirateten im Laufe von bald 140 Jahren in einem gründlich recherchierten Buch "The Wagner Clan" anschaulich beschrieben - und die fatale Verstrickung der Familie mit den Machthabern des Nazi-Reichs:

Adolf Hitler nahm Wolfgang und die anderen Wagner-Enkel gerne auf den Schoß und ließ sich von ihnen "Onkel Wolf" nennen und ihre Mutter Winifred, eine Engländerin, bekannte noch 1975 in einem Syberberg-Film, wenn sie Hitler wiedersehen könnte, würde sie ihn natürlich sehr herzlich begrüßen. Eine Wagner-Tochter hatte den antisemitischen Propagandisten Houston Stewart Chamberlain geheiratet, eine Wagner-Enkelin wurde Ehefrau eines SS-Offiziers. Einige in der Familie fanden diese Nazi-Nähe widerlich – aber Wolfgang, der Chef auf dem grünen Hügel hielt sich wohlweislich stets bedeckt. Selbstkritik war seine Sache nicht und Kritik von anderen schon mal gar nicht. Die Breker-Skulptur im Garten vor dem Festspielhaus störte möglicherweise den einen oder anderen, ihn keineswegs. Weshalb sie dort natürlich noch immer steht.

Über vier Jahrzehnte war Wolfgang unumschränkter Herrscher auf dem Grünen Hügel. Das hat ihn – sagen wir vorsichtig – eigensinnig gemacht. Und wer gegen seinen selbstherrlichen Führungsstil aufmuckte, wurde mit Sanktionen belegt: Seine Nichte Nike erhielt Hausverbot – woran die sich allerdings nicht hielt. Und seine Tochter Eva jagte er aus dem Haus – hat sich aber erst kürzlich wieder mit ihr ausgesöhnt. Weil sie ihm in der entbrannten Schlacht für seine Lieblingstochter Katharina eine nützliche Verbündete wurde. Die Wagners kämpfen wie die Krieger in den Opern ihres Ahnherrn, befindet Jonathan Carr, dessen sattes Sittengemälde über die Wagners demnächst auch auf deutsch, dann vermutlich um die neuesten Kabalen und Intrigen erweitert, erscheinen soll.

Wolfgangs Nichte Nike Wagner, 62 Jahre alt, hat den Kampf aber noch nicht ganz aufgegeben. Sie hat sich, was nun nach der Rücktrittserklärung möglich ist, ebenfalls als neue Festspielleiterin beworben. Doch große Hoffnungen, dass der Stiftungsrat anders entscheiden wird, als sich das ihr Onkel Wolfgang wünscht, hat sie nicht. Katharina wird es wohl machen. Leicht resigniert befürchtet Nike nun, dass dann "für eine konzeptuelle Neugestaltung der Festspiele wohl kein Platz mehr" sei. Das heißt: Die Festspiele bleiben exklusiv. Karten erhält man nach wie vor nur mit den allerbesten Beziehungen – oder mit Engelsgeduld. Die Festspiele werden vermutlich nicht so schnell für ein junges Publikum geöffnet. Auf Open-Air-Veranstaltungen, wie sie der Nike Wagner vorschweben, wird man lange warten können – und auf zeitgleiche Seminare während der Festspiele oder auf zeitgemäße Klänge in Auftragswerken erst recht.

Wagners Ausruf verhallt seit Jahrzehnten ungehört: "Kinder, macht Neues! Neues! Und abermals Neues!" Wenn am 25. Juli die 97. Festspiele mit einer Neufassung des "Parsifal" eröffnet werden, könnte allerdings doch Neues zu erwarten sein. Dann wird Schlingensiefs vier Jahre alter "Parsifal" durch einen anderen von Stefan Herheim ersetzt. Der vielumworbene Norweger, 38 Jahre alt, will – so munkelt man - die fatale Geschichte Bayreuths in seine Inszenierung einweben. Das wäre wirklich neu. Es soll schon Krach auf dem grünen Hügel geben. Doch daran hat man sich ja längst gewöhnt.


Manfred Eichel, Kunst- und Literaturwissenschaftler, journalistische Stationen "Spiegel", NDR-Fernsehen und ZDF, dort lange Jahre Chef von "Aspekte", 2000-2003 Chefkorrespondent Kultur im Berliner ZDF-Hauptstadtstudio, seit 1988 Professor an der UdK Berlin im Studiengang Kulturjournalismus.
Manfred Eichel
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