Nachdenklichkeit

Die knappste Ressource der Gegenwart

Geschäftsmann vergräbt seinen Kopf im Sand
Vom Kopf-in-den-Sand-Stecken verschwindet der Populismus auch nicht. © imago / Ikon Images/ Mark Airs
Von Gabor Steingart · 05.09.2017
Eine mediale Apokalypse-Industrie ist entstanden, die Ängste groß und den Menschen klein macht, kritisiert Gabor Steingart: Vor der Komplexität der Wirklichkeit flüchten manche in die simple Welt der Populisten. Dabei sei Nachdenken das Einzige, das helfe, rät der Journalist.
In der modernen Welt ringen zwei Geisteshaltungen um die Vorherrschaft. Auf der einen Seite finden wir die Polarisierer und Zuspitzer. Mit verbaler und tatsächlicher Aggression reagieren sie auf eine Welt von Hochgeschwindigkeit und Hyperkomplexität. Sie leben im Gefühl der herannahenden Apokalypse, der sie sich durch Vorurteile und einfache Unwahrheiten zu entziehen versuchen. Donald Trump ist ihr Präsident. Millionen Menschen – nicht nur in den USA – sind seine Follower.

Präsident der Polarisierer weltweit ist Donald Trump

Dem gegenüber steht die Geisteshaltung der Zuversichtlichen. Sie schauen auf die gleiche Welt, aber mit anderen Gefühlen. Sie sehen Gründe für Kritik, aber nicht für Verzweiflung. Sie wollen den anderen verstehen, nicht wegmauern. Konflikte wollen sie entschärfen, nicht auf die Spitze treiben. Im nahegelegenen Flüchtlingsheim bringen sie ihre abgelegten Kleider vorbei, nicht den selbstgebastelten Molotow Cocktail. Eine Welt der vielen Farben, Stimmen und Sprachen ängstigt sie nicht, sondern regt sie an. Sie möchten mit dem anderen nicht streiten und Krieg führen, sondern sprechen und Geschäfte machen.

"America first" ist eine Immunschwächeerkrankung

Wie stark sich die Gewichte zwischen den beiden Geisteshaltungen verschoben haben, kann man am besten in den USA besichtigen. Die allen Widrigkeiten trotzende Zuversicht ist vielen Amerikanern abhandengekommen. Sie haben sich angewöhnt mit Sorgenfalten und gesenkten Augenlidern auf die Welt zu schauen. "America first" ist so gesehen eine Immunschwächeerkrankung der Seele, die das wahre Leben in seiner Vielschichtigkeit nicht mehr ertragen kann. Sorgen verwandeln sich in Verzweiflung, Verzweiflung in Zorn. Die Menschen beginnen mit feuchter Aussprache zu sprechen.

Fatalistisches Denken statt Zuversicht

Hinzu kommt: Eine mediale Apokalypse-Industrie ist entstanden, die Ängste groß und den Menschen damit klein macht. So zittern sich Millionen, nicht nur in Amerika, in Gefühle von Ausweglosigkeit hinein. Das Schwinden von Nachdenklichkeit und Zuversicht ist – ohne dass es vielen bewusst ist – der Sendbote einer autoritären Zeit. Denn: Demokratie ist die Zwillingsschwester der Aufklärung, sie lebt von dem Gedanken, dass der Mensch nicht hilflos Naturgewalten und Göttern ausgesetzt ist, sondern selbst Herr seines Schicksals ist.

Verängstigte Gesellschaften sind die leichte Beute

In dem Maße wie Zuversicht und Nachdenklichkeit sinken, steigt die politische Energie der Populisten. Populismus ist nichts anderes als die millionenfache Übertragung von Souveränitätsrechten Einzelner auf den vermeintlich starken Führer, der in Wahrheit erst durch diesen Vorgang stark wird. Verängstigte Gesellschaften sind die leichte Beute der Autoritären. Verwundete Seelen werden schnell zu Opfern von Sektenführern, die auch dann Sektenführer bleiben, wenn hinter ihnen gar keine Religionsgemeinschaft, sondern eine politische Gruppierung steht. Insofern schwindet mit der Zuversicht auch der demokratische Energievorrat unsere Gesellschaft. In den Hochburgen des Populismus ist das Licht der Aufklärung nicht erloschen, aber es hat zu Flackern begonnen.

Nachdenklichkeit ist das Gegengift zu Populismus

Die Demokratie lebt davon, dass es mehr Zuversichtliche als Verzagte gibt. Die Botschaft der Aufklärung ist daher zu allererst eine Botschaft an uns selbst. Wer in sich das Licht der Erkenntnis auspustet und sich dem Negativismus hingibt, kann der Gesellschaft, aber auch der eigenen Firma und der eigenen Familie keinen großen Dienst mehr erweisen. Insofern beginnt der Kampf gegen den Populismus nicht auf der Straße, sondern im Kopf. Das Gegengift zur Welt der Populisten heißt nicht Kampf, sondern: Nachdenklichkeit. Es geht dabei noch nicht einmal ums Verstehen, es geht zunächst um das Verstehen-Wollen. Oder wie Kant sich auszudrücken pflegte: "Denken ist sprechen mit sich selbst."

Gabor Steingart ist seit 1. Januar 2013 Vorsitzender der Geschäftsführung der Verlagsgruppe Handelsblatt und Herausgeber des Handelsblatts. Zuvor war er drei Jahre Chefredakteur von Deutschlands größter Wirtschafts- und Finanzzeitung. Steingart studierte Politik und Volkswirtschaft und absolvierte die Georg von Holtzbrinck-Schule für Wirtschaftsjournalisten. Steingart hat mehrere Bücher veröffentlicht. Unter anderem wurde er für seine Arbeit als Chefredakteur des Handelsblatt von einer unabhängigen Jury der Zeitschrift Horizont zum "Medienmann des Jahres 2012" gekürt.

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