Nachdenklich statt anklagend

Ignacio Martínez de Pisón hat sich ein großes Thema vorgenommen: In seinem Roman "Milchzähne" schildert er anhand einer Familiengeschichte die Zeit des Faschismus in Spanien und den Umgang mit dieser Vergangenheit. Dabei bleibt er eher nüchterner Chronist als bilderreicher Poet.
Die Diskussion um die Verbrechen des spanischen Bürgerkrieges ist in Spanien erst seit einigen Jahren ein politisches und mediales Thema. Nach dem Tod Francos im Jahr 1975 wurde daran nicht gerührt: Der Übergang zur Demokratie nach fast vierzig Jahren faschistischer Diktatur war ein Balanceakt, bei dem sich die Linke wie die Rechte ideologisch zurücknahmen.

Erst jetzt werden die Massengräber aus den Kriegsjahren und danach gekennzeichnet, Tote identifiziert, Verbrechen benannt. Deren juristische Aufarbeitung allerdings wird vermutlich nicht mehr stattfinden. So etwas wie Vergangenheitsbewältigung fand in Spanien außer unter Historikern lange Zeit vor allem in der Literatur statt.

Tonfall und Haltung haben sich in den letzten zehn Jahren dabei deutlich gewandelt. Die wütenden oder melancholischen Klagen und Anklagen älterer Autoren sind differenzierteren und nachdenklicheren Erzählungen gewichen, die den inzwischen allgemeinen Diskurs ergänzen.

Der Autor Ignacio Martínez de Pisón gehört zur Generation der Enkel der Kriegsteilnehmer und hat - nach seinem Aufsehen erregenden Buch über die Ermordung eines Spaniers im Intrigenspiel der sowjetischen Machtinteressen während des Bürgerkriegs – nun auch einen Roman vorgelegt: über die faschistischen italienischen Truppen an Francos Seite, rund 70.000 Mann.

Einer von ihnen ist der – fiktive – Gefreite Raffaele Cameroni, der sich des Geldes wegen anwerben lässt, aber auch überzeugter Faschist ist. Einer jungen Spanierin wegen bleibt er im Land, verschweigt Frau und Kind in Italien und macht Karriere als Geschäftsmann. Alles läuft gut für ihn, bis sich erst seine Frau, die aus einer republikanischen Familie stammt, und später auch seine Söhne von ihm abwenden.

Martínez schildert diesen Mann mit viel Verständnis, wenn auch nicht unbedingt mit Sympathie. Vor allem aber schildert er eindrucksvoll und sorgfältig Lebensbedingungen und Alltag in seiner Heimatstadt Zaragoza. Der Roman erzählt die Familiengeschichte der Cameronis über fünfzig Jahre mit vielen zeitgeschichtlichen, aber auch erzählerisch üppigen Details. Ein Sprachkünstler ist Martínez dabei nicht: eher ein Chronist, ein redlicher Erzähler und Realist, der sich in erster Linie für Wahrheit und Wirklichkeit interessiert.

Aber, und das ist das Spannende an diesem Buch, er stellt auch die sich über die Jahrzehnte verändernden Meinungen und Haltungen dar, lässt sie wie beiläufig und zufällig im Alltag seiner Figuren aufscheinen und setzt sie in Bezug zur großen Geschichte Spaniens.

Rezensiert von Katharina Döbler

Ignacio Martínez de Pisón: Milchzähne
Aus dem Spanischen von Sybille Martin
Hoffmann und Campe, Hamburg 2009
384 Seiten, 19,95 Euro