Nachdenken übers Ballspiel

Rezensiert von Arno Orzessek |
Keine Frage, es gibt zurzeit sehr viele Intellektuelle und Feuilletonisten, die sich im medialen Glanz der anbrechenden Ballspiele sonnen wollen. Zweifellos gilt auch, dass zwischen dem real existierenden Wirtschaftsunternehmen Fußball und der lyrischen Verklärung des Spiels oft eine tiefe Kluft vorhanden ist. Und dennoch liest man Gunter Gebauers "Poetik des Fußballs" mit Genuss.
Uneingeschränktes Lob verdient der 40-Seiten-Essay am Anfang, der den Titel des Buches mit einem kleinen Zusatz trägt: "Poetik des Fußballspiels". Der Berliner Philosoph und Sportsoziologe Gebauer will – wie er schreibt - "philosophisch mit dem Fußball spielen, ohne ihn durch Rationalisierung oder Bedeutungsschwere zu verraten".

Gebauer: "Nachdem wir dem Fußballspielen zugesehen haben und uns von ihm haben gefangen nehmen lassen, platzieren wir uns in dem Raum hinter den Ereignissen und warten auf den Moment, in dem der Glanz aufleuchtet, in dem sich vom Staub eine Poesie absondert, die uns ergreift und eine innere Landschaft erleuchtet, die wir immer schon gesehen haben, ohne sie zu kennen."

Das sind große, aber keine hohlen Worte. Gebauer beweist, dass man ohne die allfälligen Anekdoten, ohne Folklore, ohne Pseudo-Anthropologie und Kicker-Esoterik und sowieso ohne Faktenhuberei über Fußball schreiben und dabei dem Ballspiel auf den Grund gehen kann – dem Ballspiel und dem Gedankenspiel mit dem Ball.

Gebauer: "Im Fußball gibt es eine Haltung zur Welt, die eine Alternative zur Attitüde der Philosophie ist. Philosophisch ist das Staunen darüber, wie die Welt beschaffen ist... Das Fußballspiel lebt von der Freude darüber, dass es die Welt gibt, von einem Vergnügen an den Dingen, das sich in dem einen Ding konzentriert, um das es geht: im Ball."

Fußball unterhält für Gebauer ein gemeinsames ästhetisches Prinzip mit den Künsten: nämlich den Weg des größten Widerstands. So wie in der dichterischen Sprache der Fluss der freien Rede von Metrum, Vers- und Reimschema eingehegt wird, so muss der Fußballer die Tücke des Spielgeräts und die evolutionäre Grobheit seiner Füße überwinden, um wirklich spielen zu können.

"Alle Kunstformen folgen demselben Prinzip: Von banalen Gegenständen wird die Aufgabe, den inneren Glanz der Welt zu zeigen, fast bis zur Unmöglichkeit erschwert. Sie lassen alle Nicht-Könner kläglich scheitern, aber geben allen, die sie beherrschen, die Möglichkeit, ungeahnte, einmalige Dinge zu tun."

Gebauer bedenkt den Fußball vor dem Hintergrund der christlichen Tradition und der griechischen Mythologie. Er zitiert Augustinus, Nikolaus von Kues und Friedrich Nietzsche – behauptet aber: "Man verrät das Fußballspiel, wenn man es zu einem Gut der höheren Kultur macht." Was zunächst wie ein Selbstwiderspruch erscheint, löst sich überzeugend auf. Wenn auch die Philosophen den Fußball zunehmend lieben, bleibt das Fußballspiel selbst laut Gebauer "unterhalb der Symboliken und moralischen Wertungen der Kultur".

"Im Fußballspiel kommt ein Misstrauen gegen die Kultur zum Ausdruck, nicht gegen jede ihrer Formen, aber gegen die von Sprache und Schrift geprägte Hochkultur und die von dieser erfundenen Spaltung der Welt in Zeichen und Dinge... Bis heute bleibt das Spiel mit dem Fuß ein stummer Protest gegen die gelehrte Kultur, die ihr ganzes Gebäude auf Begriffen, Differenzierungen und Zeichen aufbaut."

Der Essay "Poetik des Fußballspiels" ist gegliedert durch Unterüberschriften wie "Tore und Häuser", "Die Macht des Publikums" und "Geschrei und Grausamkeit". Er würde aber auch ohne Gliederungen funktionieren: flüssig wie ein großes Spiel, in dem Ernsthaftigkeit in Magie umschlagen kann. Gebauers Stärken sind phänomenlogische Genauigkeit, sprachliche Angemessenheit und das Durchdringen des disparaten Fußballgeschehens auf seine Archetypen. Über den Gegensatz von Torhütern und Torjägern schreibt Gebauer auf der Folie der Antike:

"Der Handlungsstil des Torwarts mischt in die Tragödie den Ton der Ballade: er ist der Vertreter eines Heroismus der Verlässlichkeit, ein Bewahrer der alten Werte. Der Torjäger bringt den Ton des homerischen Epos ins Spiel: sein Erfolg stammt von den Göttern. In seinen Handlungen vollzieht sich, was göttlicher Ratschluss bestimmt hat, die Menschen aber noch nicht wissen."

Dem grandiosen Poetik-Essay folgen Kapitel über die Frage "Was interessiert Frauen am Fußball?", über "Das deutsche Fußballtheater", auch über "Hooligans und der Mythos des Bösen". Es bricht die zweite Halbzeit an. Sie ist nicht ganz so packend wie die erste, aber bietet jederzeit gute Kost. Die religiöse Dimension des Fußballkults wird untersucht, der Hang zur Schwalbe aufgespießt, und dezente Medienhäme fehlt auch nicht.

"Das Auftreten mafiöser Strukturen im Fußball scheint bei vielen Journalisten statt Abscheu eher einen geheimen Thrill auszulösen. Jedenfalls spielt es dem gegenwärtigen Trend zu, Fußballspiele mit dem narrativen Rahmen von Soap Operas zu umgeben... Die tatsächliche Entwicklung des Fußballs, die wirklichen Verflechtungen von Geld, Macht und Spiel erscheinen so irreal und damit nicht ernst zu nehmen."

Gunter Gebauer lässt sein Buch, das implizit von der Schönheit der sportphilosophischen Reflexion handelt, mit persönlichen Worten ausklingen. Er wurde vom Fußball geprägt, als die deutsche Elf 1970 das legendäre WM-Halbfinale gegen Italien erreichte, 1972 mit spielerischem Glanz Europameister wurde und zwei Jahre später den Welttitel erkämpfte – womit gleichzeitig eine Verwandlung begann, die den Autor melancholisch macht.

"Die Fußballer wurden ... angezogen von den ... Verheißungen des Wohlstands, die ihnen so viel solider vorkamen als die Höhenflüge eines schönen Spiels. Aus ihren Porträtbildern leuchten die unvergesslichen Glanztaten der Vergangenheit, aus einer Umrandung, die von Jahr zu Jahr eine dunklere Färbung einnimmt."