Nach Kritik an Sat.1-Sendung

"Die Medienaufsicht ist ein zahnloser Tiger"

08:16 Minuten
Sat.1-Logo auf einer LED-Wand.
Was hat sich Sat.1 zu Schulden kommen lassen? (Symbolbild) © imago / Future Image
Bernd Gäbler im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 26.05.2021
Audio herunterladen
Zwei für die Reality-TV-Show "Plötzlich arm, plötzlich reich" gecastete Kinder sind offenbar Opfer sexuellen Missbrauchs. Der Sender Sat.1 und die Produktionsfirma sollen davon gewusst haben. Medienwissenschaftler Bernd Gäbler wundert das nicht.
Wer sich Reality-Soap-Formate wie "Plötzlich arm, plötzlich reich" bei Sat.1 anschaut, erwartet keine Hochkultur. Auch die Mitwirkenden an solchen Produktionen – in diesem Fall eine reiche Familie, die für eine Woche mit einer armen Familie ihr Heim und ihr Leben tauscht – wissen größtenteils, worauf sie sich einlassen.

Traumatisierte Kinder vor der Kamera

So auch der Schlagersänger Matthias Distel alias Ikke Hüftgold, der mit Ballermann-Songs Erfolge feiert und in dem Privatsender-Format den Part des Reichen übernahm. Doch was Distel erlebte, ging ihm gehörig gegen den Strich: Die beiden kleinen Kinder der armen Familie, die in sein Haus in Limburg einziehen sollten, seien stark traumatisiert und offenbar Opfer häuslicher Gewalt und sexuellen Missbrauchs, so Distel in einer Videobotschaft. Er hat deshalb den Dreh nach wenigen Tagen abgebrochen.
Sowohl der Sender als auch die Produktionsfirma Imago TV seien offenbar über die Situation der Familie im Bilde gewesen, sagt der Medienwissenschaftler Bernd Gäbler, der 2020 seine Studie "Armutszeugnis. Wie das Fernsehen die Unterschichten vorführt" veröffentlichte.

Reality-TV im Dienst des Voyeurismus

Gäbler wirft darin einen kritischen Blick vor allem auf Reality-Formate und sagt: "Ziel ist in der Regel, Menschen, die ganz unten in der Gesellschaft sind, darzustellen und auch vorzuführen. Die Kameras führen uns dabei an die Abgründe menschlicher Existenz oft sehr kranker, alkoholsüchtiger Leute."
Diesen Menschen mangele es häufig an der geistigen Fähigkeit zu durchschauen, dass sie vorgeführt und benutzt würden, um den Voyeurismus anderer zu befriedigen, kritisiert Gäbler.
Er beschreibt das Prozedere hinter der Produktion: Der Sender gebe die Verantwortung nach unten, an die Produktionsfirma, weiter – entsprechende Verträge sicherten ihn ab. Die Produktionsfirma versichere mit ihrer Vertragsunterschrift ihrerseits, dass sie sauber recherchiert habe. Die Protagonisten wiederum, die für ihr Mitwirken bezahlt werden, würden gegenüber der Produktionsfirma zur Verschwiegenheit verpflichtet. Eine wirksame Kontrolle, ob hinter den Kulissen wirklich alles mit rechten Dingen zugehe, gebe es kaum.

Mängel bei der Medienaufsicht

Wird die öffentliche Empörung von Matthias Distel in diesem Fall aber Folgen haben – kommt hier die Medienaufsicht ins Spiel? Gäbler zeigt sich skeptisch: Die Aufsicht sei im Großen und Ganzen "ein zahnloser Tiger".
Die Verantwortlichen achteten zwar ab und zu auf Jugend- und Tierschutz, "wir können sicher sein, dass im 'Dschungelcamp' keiner Kröte was zuleide getan wird", so Gäbler, "aber sie sind weder willens noch fähig, in die Tiefe zu schauen: in den heimlichen Plan beim Casting, in die Gestaltung der Verträge." Denn: Man wolle ja keine Zensur ausüben.

Appell an Politik und Werbetreibende

Es brauche eine politische Debatte, fordert Gäbler. Solange die Politik sich weigere, in solchen Fällen Einfluss zu nehmen, werde sich sicherlich nichts ändern. Damit unterscheide sich Deutschland zum Beispiel grundlegend von Großbritannien, wo ähnlich gelagerte Fälle sogar im Parlament diskutiert worden seien.
Vor allem aber seien die Werbetreibenden gefragt. Die Situation werde sich nur dann bessern, wenn im Umfeld von fragwürdigen Reality-Soaps wie "Plötzlich arm, plötzlich reich" keine Werbung mehr geschaltet würde.
(mkn)

Unterhaltung ohne Grenzen? Menschenwürdeschutz im Trash-TV [AUDIO]
Wie Landesmedienanstalten rechtlich in die Tiefe schauen müssten, um die Menschenwürde in Reality-TV-Formaten beim Dreh und im Programm selbst zu schützen, erklärt Mark Cole, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Europäisches Medienrecht und Professor für Medien- und Telekommunikationsrecht an der Universität Luxemburg.

Das Logo des Fernsehsenders Sat.1 ist auf dem Display eines Smartphone zu sehen.
© Imago / photothek / Thomas Trutschel
Mehr zum Thema