Nach "Judensau"-Urteil

Der Umgang mit dem antisemitischen Erbe

07:28 Minuten
Antisemitische Schmähfigur an der der St.-Stephani-Kirche in Calbe
Antisemitische Schmähfigur an der Sankt-Stephani-Kirche in Calbe: Die Kirchengemeinde wollte sie entfernen, das Amt für Denkmalschutz hat es verboten. © picture alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert
Von Thyra Veyder-Malberg · 27.06.2022
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Die "Judensau" an der Wittenberger Stadtkirche muss nicht entfernt werden, so das Urteil des Bundesgerichtshofs. Dank einer Erklärtafel. Doch judenfeindliche Bildmotive sind verbreitet in Deutschland. Wie gehen andere Kirchgemeinden damit um?
St. Nikolai in Zerbst ist eine imposante Kirchenruine, umgeben von abgewohnten Plattenbauten. Claus-Jürgen Dietrich, der Vorsitzende des Nikolai-Vereins, der sich um Erhalt und Nutzung der Ruine kümmert, steht an einem Strebepfeiler und erklärt eine Tafel, die dort seit gut einem halben Jahr angebracht ist. "Wichtig ist eben so etwas: ‚Distanziert sich davon‘ und ‚verabscheuungswürdig‘ und ‚nicht tolerierbar‘. Das sind so die Vokabeln, die klarmachen, dass die Kirchengemeinde nichts am Hut hat mit dem Inhalt, aber eben zur Auseinandersetzung auffordert.“
Der Inhalt, von dem sich die evangelische Gemeinde distanziert, ist ein Relief aus dem 15. Jahrhundert, das in gut vier Metern Höhe angebracht ist. Es zeigt Menschen, die durch ihre Hüte eindeutig als Juden erkennbar sind, die an den Zitzen einer großen Sau saugen. Ein weiterer hebt den Schwanz des Tieres und schaut ihm in den Anus.

"Protorassistisch" und "vormodern antisemitisch"

Dieses mittelalterliche Bildmotiv findet man nicht nur in Zerbst, sondern in verschiedenen Varianten an rund 40 Orten in Europa, etwa in Nürnberg, Köln, Salzburg und Posen, besonders oft aber in Mitteldeutschland. Eine Darstellung, „die ich für protorassistisch und insofern für vormodern antisemitisch halte“, sagt der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann von der Uni Göttingen.
Eine als "Judensau" bezeichnete Schmähplastik ist an der Wittenberger Stadtkirche zu sehen.
Antisemitische Motive wie an der Wittenberger Stadtkirche sind in zahlreichen Stadten Deutschlands zu sehen.© picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt
Es gehe darum, eine bestimmte Menschengruppe als solche zu desavouieren, zu diskreditieren und ihr Menschlichkeit abzusprechen. "Sie sind nicht human, sie sind bei den Tieren, sie gehen um mit unreinen Kreaturen. All das ist Schmähung, Diffamierung und Ausgrenzung.“
Deshalb könnten solche menschenverachtenden Darstellungen nicht einfach unkommentiert hängen bleiben, meint Kaufmann. Andererseits ist der Forscher auch dagegen, die Bildwerke einfach abzunehmen. „Meines Erachtens ist es erforderlich, und dringend geboten, anhand solcher Darstellungen die tiefen Wurzeln von Judenfeindschaft in den europäischen Gesellschaften sichtbar zu machen.“ Eine Feindschaft, die in der Kirche eine lange Tradition hat: Auch Martin Luther hat sie in seinen Schriften und Predigten immer wieder befeuert.

Klage ließ auch andere Gemeinden aktiv werden

In Zerbst wurde das Schmähbild lange Jahre einfach ignoriert. Doch dann kam die Klage gegen die Sau im benachbarten Wittenberg.
Da sah man auch in Zerbst Handlungsbedarf, sagt Ruinenpfleger Dietrich. „Wenn man die Urteile liest, sowohl vom Landgericht, als auch vom Oberlandesgericht, und sagt: Wenn diese Klage uns getroffen hätte…' Alles, was da zur Entlastung steht, trifft ja nicht zu. Wir hatten bisher keine Stätte der Mahnung, wir hatten keine Einbettung. Dann hätte es ein ganz anderes Urteil gegeben, oder geben können, sag ich mal.“ 
Die Gemeinde vor Ort wurde mit der Landeskirche und dem Nikolaiverein gemeinsam aktiv: Seit letztem Jahr hängt die Tafel, außerdem ist ein Gegendenkmal in Sichtweite geplant. 
Rund 30 Kilometer westlich, in Calbe, ist der Stein des Anstoßes ein unechter Wasserspeier an der Fassade von St. Stephani. Er hat die Form eines Juden, der einer Sau den Hintern küsst. Zu sehen ist die Schmähskulptur aber derzeit nicht. Sie ist mit einem netzartigen Stoff verhüllt: eine Kompromisslösung. 

"Dann ist die Situation eskaliert"

Vorausgegangen war ein handfester Streit zwischen der Kirchgemeinde und dem Amt für Denkmalschutz. Denn die Gemeinde wollte die judenfeindliche Figur nach der Fassadensanierung vor zwei Jahren, anders als mit dem Denkmalschutz ursprünglich abgesprochen, nicht wieder anbringen.
„Da hat man dann unter dem Eindruck der Anschläge von Halle einfach nochmal weiteren Handlungsbedarf gesehen. Und dann ist die Situation ziemlich eskaliert“, sagt der Leiter der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt Christoph Maier. Der wurde als Experte von außen dazugeholt, um mit den Akteuren vor Ort ein Konzept zum Umgang mit der Schmähskulptur zu erarbeiten.
„Und ich glaube", so Maier, "es ist gut, dass wir einen ziemlich guten Kompromiss gefunden haben, dass diese Eskalationsstufen wieder vom Tisch sind. Die jetzige Lösung ist auf drei Jahre befristet und das ist genug Zeit, um mit allen Beteiligten eine Lösung zu finden.“ 

Wanderausstellung mit Schmähskulpturen?

Dass man eine Kirchgemeinde zwingt, eine judenfeindliche Figur gegen ihren Willen wieder aufzuhängen, findet Max Privorozki unmöglich. Historische Beleidigungen seien kein Thema, was ihn derzeit allzu sehr beschäftige, sagt der Vorsitzende der jüdischen Gemeinden in Sachsen-Anhalt.
Beleidigungen seien sie aber doch: „Wenn ich das jeden Tag sehe, dann würde ich selbstverständlich unglücklich. Das ist ungefähr so, wie wenn auf eine Wand hier in der Nähe etwas Antisemitisches geschrieben wird, und ich bin irgendwie gezwungen, das fast immer zu lesen. Dann wird das mir selbstverständlich keinen Spaß machen und irgendwann versuche ich, mich dagegen zu wehren.“
Mann mit Kippa: Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Halle, während des Gedenkens an die Opfer 2020.
Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Halle, während des Gedenkens an die Opfer 2020.© picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt
Deshalb würde Privorozki, der den Anschlag auf die Synagoge in Halle miterlebte, alle erhaltenen Schmähskulpturen abnehmen und daraus eine Wanderausstellung zur Judenfeindlichkeit in der Kirche machen. Aber: „Das ist eigentlich nicht meine Aufgabe, zu sagen, was genau Kirche in dieser Situation zu tun hat.“ 

"Wir dürfen das Thema nicht entsorgen"

Der Bischof der evangelischen Landeskirche Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, versteht im Streit um den Umgang mit den Schmähskulpturen beide Positionen: Diejenigen, die sie als Mahnung kommentiert stehenlassen wollen, genauso wie jene, die sie entfernen wollen: „Das Argument ist immer: Der Stachel muss im Fleisch bleiben. Wir dürfen es nicht entsorgen, und damit das Thema entsorgen. Und das leuchtet, finde ich, auch ein. Wobei ich finde, dass es nur halb einleuchtet, denn es sticht ja nicht uns, sondern es beschimpft unsere jüdischen Geschwister.“ 
Auch in Bischof Kramers „Hauskirche“, im Dom von Magdeburg gibt es eine solche Sau, die ganz ähnlich aussieht wie die in Zerbst. Sie ist in der Grablege desjenigen Erzbischofs zu finden, der in den 1490er-Jahren die Vertreibung sämtlicher Juden aus Magdeburg befahl. Der heutige Bischof würde dieses Schmähbild am liebsten im Museum sehen.
Doch das hat nicht er zu entscheiden. Denn der Dom gehört der Kulturstiftung des Landes Sachsen-Anhalt, und die hat bisher keine Anstalten gemacht, etwas zu ändern. Die Domgemeinde hat derweil einen Rundgang durch den Bau gestaltet, der anhand verschiedener Bildwerke im Dom – unter anderem der Sau – das Verhältnis von Christen und Juden thematisiert. 

Entscheidung im Einzelfall

Der Umgang mit solchen Schmähplastiken muss am Einzelfall entschieden werden, sagt Kramer. In Wittenberg etwa müsse sie bleiben, damit Luthers Judenhass nicht vergessen werden kann – und um die Beschäftigung mit dem judenfeindlichen Erbe der Kirche dauerhaft am Leben zu halten.
„Ich glaube, dass die Bearbeitung des Antisemitismus, der Kampf dagegen, eine tägliche Aufgabe ist. Wie Abwaschen", meint Kramer. "Da musst du immer wieder ran. Es ist so tief in unserer Gesellschaft verwurzelt, an so vielen Stellen, bei so vielen Geistesgrößen schwingt das mit, dass die Idee, wir könnten da einmal Aufräumen, dann ist das Ding gegessen... Ich glaub, das ist zu einfach.“ 

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