Nach dem Endspiel - was bleibt?
Der Weltmeister steht fest, wir sind es nicht. Die Fahnen dürfen wieder eingerollt werden, die Schlachten sind geschlagen, die Leute gehen wieder nach Hause. Wer jetzt auf öffentlichen Plätzen weiterhin "Deutschlaaand!" riefe oder in den Nationalfarben geschminkt aufträte, der käme in Erklärungsnot, was er damit eigentlich mitteilen will.
Das Spiel ist zu Ende. Und dennoch meinen viele, das Land sei nach dem Turnier ein anderes als vorher. Angestoßen wurde diese Vermutung durch einen Satz des Spielers Christoph Metzelder, der sich über die Beflaggung als Ausdruck von Sympathie für das deutsche Team freute und davon sprach, so etwas sei in Deutschland überfällig gewesen. Aus diesem harmlosen Befund eines Innenverteidigers wurde eine ganze Diskussion, über Hymne und Fahne und über einen neuen Patriotismus. Der Fußball, so hieß es, habe den Deutschen endlich ein aufgelockertes Verhältnis zu ihrer Nation und einen ganz normalen Umgang mit ihren Symbolen ermöglicht. Der Fußball, so glaubt man, hat etwas im Volk bewirkt, und die Frage sei jetzt, ob diese neue, gute, selbstbewusste Stimmung auch nach dem Turnier andauern kann.
Doch diese Frage beruht auf einer falschen Voraussetzung. Denn schaut man genau hin, dann hat die Weltmeisterschaft gar nichts Neues hervorgebracht. Sie hat nur Veränderungen öffentlich sichtbar werden lassen, die mit den Deutschen seit langem vor sich gegangen sind. Der Fußball bewirkt nichts, er macht nur, weil alle hinschauen, vieles auffällig.
Nehmen wir beispielsweise die Dauerparty, die aus Anlass der WM gefeiert wurde. Sie ist gründlich vorbereitet worden. Überall im Land gibt es seit langem eine ganze Kultur der Beschäftigung mit fremden Arten, fröhlich zu sein. Man tanzt Samba, Salsa, Tango oder Capueihra. Man belegt Kurse, trifft sich jedes Wochenende, fährt im Urlaub in die Herkunftsländer solcher Tänze. Keine mittlere Stadt, in der sich nicht Deutsche darin schulten, ein bißchen wie Lateinamerikaner zu sein.
Oder nehmen wir die vielen tätowierten Existenzen, die bemalten Gesichter, die Fans in aufwendigen Kostümen. Es war für sie ein Leichtes, sich schwarzrotgold anzustreichen, denn in der Selbstbemalung waren sie auch vorher schon gut geübt. Gefärbte Haare, bunte Jacken, ornamentreiche Körper - wir denken noch immer, die Deutschen seien zurückhaltende Bürger. Wir täuschen uns. Es gibt ziemlich viele, die sich ständig kostümieren. Hierzu gehört auch, dass Sportbekleidung längst zum Alltag gehört. Ich erinnere mich noch an Zeiten, es muss vor 30 Jahren gewesen sein, als so etwas nur von Amerikanern bekannt war: Turnschuhe in Büros.
Das Gleiche gilt für unsere Freundlichkeit gegenüber den Gästen. Sich publizistisch darüber zu erstaunen und es lobend als großen, durch den Fußball bewirkten Fortschritt hervorzuheben, hat etwas Naives. Denn 60 Jahre Tourismus, in dem wir weltweit führend sind, können schließlich nicht folgenlos bleiben. Dass andere Länder etwas haben, was wir nicht haben, ist ein Grundgefühl der Deutschen. Wenn uns die Italiener schlagen, sind wir bestenfalls traurig, aber keinesfalls wütend. Wenn die Franzosen gewinnen, finden wir das gut. Das hat aber nichts mit dem Fußball zu tun. Denn wir finden andere Länder sowieso gut. Das Spiel gegen Italien schauen wir beim Italiener an, und beim "public viewing" geben wir uns brasilianisch.
Das gilt übrigens für alle Schichten. Die Nationalfarben flatterten ja nicht nur an tiefer gelegten Opels und VWs mit Klorolle im Rückfenster, sondern auch am BMW und Mercedes, ja am Jaguar und am Volvo. Auch das hat der Fußball nicht bewirkt, sondern nur geerntet: Die Geschmacksanähnelung zwischen denen ganz Oben und denen ganz Unten. Ob Ehrentribüne oder Fankurve – die Verhaltensweisen sind dieselben, überall wird "Deutschlaaaand" skandiert, überall zeigt man sich bunt. In den VIP-Lounges sitzen bemalte Manager im Nationaltrikot, und eine Bundeskanzlerin klatscht mit, sobald aus dem Lautsprecher "You never walk alone" gespielt wird.
Aus all dem spricht kein neuer Patriotismus, sondern ein großes Bedürfnis nach Ferien. Ferien von Deutschland in Deutschland. Aussteigen und doch Mitmachen. Bunt sein in der Masse. Abreisen und zugleich dableiben können – die WM hat ermöglicht, dieses Paradox auszuleben. Der Fußball hat aus dem Volk kein anderes gemacht und aus dem Land kein neues. Er hat nur das gezeigt, was schon seit langem das tiefste Verlangen der deutschen Kollektivseele ist: Urlaub als Normalität.
Jürgen Kaube, geboren 1962, studierte Wirtschaftswissenschaften, Philosophie, Germanistik sowie Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin und war Hochschulassistent für Soziologie an der Universität Bielefeld. Seit 1998 ist er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", wo er für Fragen der Bildung, Wissenschafts- und Gesellschaftspolitik zuständig ist.
Doch diese Frage beruht auf einer falschen Voraussetzung. Denn schaut man genau hin, dann hat die Weltmeisterschaft gar nichts Neues hervorgebracht. Sie hat nur Veränderungen öffentlich sichtbar werden lassen, die mit den Deutschen seit langem vor sich gegangen sind. Der Fußball bewirkt nichts, er macht nur, weil alle hinschauen, vieles auffällig.
Nehmen wir beispielsweise die Dauerparty, die aus Anlass der WM gefeiert wurde. Sie ist gründlich vorbereitet worden. Überall im Land gibt es seit langem eine ganze Kultur der Beschäftigung mit fremden Arten, fröhlich zu sein. Man tanzt Samba, Salsa, Tango oder Capueihra. Man belegt Kurse, trifft sich jedes Wochenende, fährt im Urlaub in die Herkunftsländer solcher Tänze. Keine mittlere Stadt, in der sich nicht Deutsche darin schulten, ein bißchen wie Lateinamerikaner zu sein.
Oder nehmen wir die vielen tätowierten Existenzen, die bemalten Gesichter, die Fans in aufwendigen Kostümen. Es war für sie ein Leichtes, sich schwarzrotgold anzustreichen, denn in der Selbstbemalung waren sie auch vorher schon gut geübt. Gefärbte Haare, bunte Jacken, ornamentreiche Körper - wir denken noch immer, die Deutschen seien zurückhaltende Bürger. Wir täuschen uns. Es gibt ziemlich viele, die sich ständig kostümieren. Hierzu gehört auch, dass Sportbekleidung längst zum Alltag gehört. Ich erinnere mich noch an Zeiten, es muss vor 30 Jahren gewesen sein, als so etwas nur von Amerikanern bekannt war: Turnschuhe in Büros.
Das Gleiche gilt für unsere Freundlichkeit gegenüber den Gästen. Sich publizistisch darüber zu erstaunen und es lobend als großen, durch den Fußball bewirkten Fortschritt hervorzuheben, hat etwas Naives. Denn 60 Jahre Tourismus, in dem wir weltweit führend sind, können schließlich nicht folgenlos bleiben. Dass andere Länder etwas haben, was wir nicht haben, ist ein Grundgefühl der Deutschen. Wenn uns die Italiener schlagen, sind wir bestenfalls traurig, aber keinesfalls wütend. Wenn die Franzosen gewinnen, finden wir das gut. Das hat aber nichts mit dem Fußball zu tun. Denn wir finden andere Länder sowieso gut. Das Spiel gegen Italien schauen wir beim Italiener an, und beim "public viewing" geben wir uns brasilianisch.
Das gilt übrigens für alle Schichten. Die Nationalfarben flatterten ja nicht nur an tiefer gelegten Opels und VWs mit Klorolle im Rückfenster, sondern auch am BMW und Mercedes, ja am Jaguar und am Volvo. Auch das hat der Fußball nicht bewirkt, sondern nur geerntet: Die Geschmacksanähnelung zwischen denen ganz Oben und denen ganz Unten. Ob Ehrentribüne oder Fankurve – die Verhaltensweisen sind dieselben, überall wird "Deutschlaaaand" skandiert, überall zeigt man sich bunt. In den VIP-Lounges sitzen bemalte Manager im Nationaltrikot, und eine Bundeskanzlerin klatscht mit, sobald aus dem Lautsprecher "You never walk alone" gespielt wird.
Aus all dem spricht kein neuer Patriotismus, sondern ein großes Bedürfnis nach Ferien. Ferien von Deutschland in Deutschland. Aussteigen und doch Mitmachen. Bunt sein in der Masse. Abreisen und zugleich dableiben können – die WM hat ermöglicht, dieses Paradox auszuleben. Der Fußball hat aus dem Volk kein anderes gemacht und aus dem Land kein neues. Er hat nur das gezeigt, was schon seit langem das tiefste Verlangen der deutschen Kollektivseele ist: Urlaub als Normalität.
Jürgen Kaube, geboren 1962, studierte Wirtschaftswissenschaften, Philosophie, Germanistik sowie Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin und war Hochschulassistent für Soziologie an der Universität Bielefeld. Seit 1998 ist er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", wo er für Fragen der Bildung, Wissenschafts- und Gesellschaftspolitik zuständig ist.