Nach dem "Bürgerrat Demokratie" in Leipzig

Mehr Demokratie von unten wagen

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Menschenmenge übergibt großen Würfel mit Ja oder Nein-Entscheidung.
Mehr Entscheidungsgewalt für die Bürgerinnen und Bürger, mehr Demut der Politiker - das fordert der Journalist Timo Rieg. © imago images/Ikon Images/Klaus Meinhardt
Ein Plädoyer von Timo Rieg · 07.10.2019
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In Leipzig tagte der per Losverfahren zusammengesetzte "Bürgerrat Demokratie". Ein erfolgreiches Experiment, meint der Journalist Timo Rieg: Die Politik wäre gut beraten, diese Form der Bürgerbeteiligung auch in der realen Politik zuzulassen.
Deutschland will direkte Demokratie. Und es will sie mit kluger, ausführlicher Beratung. So lässt sich plakativ formulieren, was vor einer Woche der "Bürgerrat Demokratie" nach vier Tagen anstrengender Arbeit, Experten-Hearings und Diskussionen der Bundespolitik empfohlen hat, und zwar fast einstimmig mit 98,7%. Dieser Bürgerrat Demokratie setzte sich nicht aus Experten, Verbandsvertretern und Parteimitgliedern zusammen, sondern aus 160 Menschen der gesamten Republik, die über die kommunalen Melderegister ausgelost wurden, repräsentativ in puncto Alter, Geschlecht und Wohnregion.
Das Ergebnis überrascht nicht, denn schon lange zeigen Umfragen, dass sich die Wahlberechtigten mehr Mitbestimmung wünschen und die Delegation der Wahrnehmung ihrer Interessen an die Parteien allein noch nicht für der Weisheit letzten Schluss halten. Die Eindeutigkeit des Ergebnisses wird niemand begründet wegwischen können, auch wenn wir alles berücksichtigen, was von kenntnisreichen Beobachtern am Verfahren im Detail kritisiert wird.

Sachentscheidungen direkt vom Wähler

Jeder einzelne in diesem Bürgerrat hat sich intensiver mit Fragen zum Volksentscheid und mit Formen der Bürgerbeteiligung beschäftigt als die allermeisten, die jemals in einer Umfrage dazu ihre Meinung kundgetan haben. Selbst der ehemalige bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein, der den Bürgerrat begleitet hat, und der unverdächtig ist, die Macht der Berufspolitiker schmälern zu wollen, lobte die Arbeit dieser "normalen Bürger" in höchsten Tönen.
Wenn es nach dem Willen der Bürger geht, dann sollen nicht mehr nur gewählte Politiker und ihre nicht gewählten Verwaltungen das Sagen im Land haben, sondern dann sollen Sachentscheidungen auch direkt von den Wählern getroffen werden - auch gegen den Willen der Politik. Es geht um wirkliche Veränderungen und nicht um Kosmetik.

Keine Angst vor der Bürgerschaft

Ausgeloste Bürgerräte spiegeln sehr exakt die Meinung einer informierten Gesamtbevölkerung wider. Verschiedenste Lebenserfahrungen und politische Haltungen sind darin vertreten, und doch wird man sich bei den großen Fragen erstaunlich einig - das wissen wir aus der Feldforschung schon lange.
Es ist demokratisch schlicht nicht zu begründen, warum sich Regierungen und Parlamente über den Bürgerwillen hinwegsetzen können. Wer Demokrat ist, kann keine Angst vor der Bürgerschaft haben.
Deshalb ist auch die Hauptforderung der Protestbewegung "Extinction Rebellion" überzeugend: Die Rebellen blockieren Plätze und Brücken in den Städten ja nicht, um die Politik zu einem bestimmten Handeln gegen die Klimakatastrophe zu zwingen, sondern sie wollen es einem ausgelosten, also nach dem Zufallsprinzip zusammengesetzten Bürgerrat überlassen, verbindliche politische Vorgaben zu erarbeiten. Sie setzen nicht auf ihre eigene Weisheit, sie setzen auf die Klugheit der Bevölkerung - und deren Selbstbestimmungsrecht.

Lebenserhaltende Eingriffe ins politische System

Ausgeloste Bürgerräte sind keineswegs dafür da, die herrschende Politik zu legitimieren, ihr mehr Akzeptanz im Volk zu beschaffen, das Vertrauen in die Demokratie zu stärken und das gute Gefühl zu vermitteln, mal gehört worden zu sein. Ausgeloste Bürgerräte sind große, lebenserhaltende Eingriffe ins politische System.
Denn natürlich hat die Politik beim Klimaschutz versagt, ganz objektiv, weil sie nie zur Wahl gestellt hat, die Erde in dem sich nun abzeichnenden Umfang zu verändern, weil sie nie versprochen hat, das größte Artensterben und die größten Völkerwanderungen aller Zeiten zu veranstalten. Die Politik hat suggeriert, dass alles immer besser wird, wenn man sie nur wählt. Dafür hat sie riesige Probleme, die seit Jahrzehnten bekannt oder absehbar waren, ignoriert.
Die Bürger können und müssen nun versuchen, zu korrigieren, was noch zu korrigieren ist. Und die herrschenden Politiker müssen das in Demut zulassen.

Timo Rieg ist Buchautor und Journalist. Seine zuletzt erschienen Bücher sind "Demokratie für Deutschland" und der Tucholsky-Remake "Deutschland, Deutschland über alles". Zum Thema "Bürgerbeteiligung per Los" bietet Timo Rieg zudem eine Website mit Podcast an.

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