Nach dem Anschlag von Halle

Die Menschen der Ludwig-Wucherer-Straße halten zusammen

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Izzet Cagac, Betreiber des Kiez-Döners, steht vor seinem Imbiss. Ministerpräsident Haseloff und der Opferbeauftragte der Bundesregierung haben den vom rechtsextremen Terroranschlag betroffenen Kiez-Döner besucht. Beide haben dem Imbiss-Besitzer und seinen Mitarbeitern Unterstützung zugesichert.
Der Betreiber des Döner-Imbisses, Izzet Cagaz, war zur Zeit des Terroranschlags in der Türkei. © dpa-Zentralbild / dpa / Jan Woitas
Von Christoph D. Richter · 30.10.2019
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Zwei Menschen wurden beim Anschlag in Halle ermordet. Der Imbiss an der Ludwig-Wucherer-Straße, in dem ein junger Mann erschossen wurde, ist noch geschlossen. Das Viertel hat sich seitdem verändert. Die Menschen suchen Halt untereinander.
Die Ludwig-Wucherer Straße in Halle an der Saale wurde benannt nach dem gleichnamigen Industriellen. Mitte des 19. Jahrhunderts hat der einstige Stadtrat und Kämmerer dafür gesorgt, dass Halle an das Eisenbahnnetz angeschlossen wurde. Heute ist die vierspurige Allee eine quirlige Szene-Meile mitten in Halle. Anwohner nennen sie kurz und knackig nur "LuWu". Es gibt Kneipen, Cafés, Biergärten, vegane Bistros und Restaurants, Waschsalons, einen Buch- und Plattenladen, Tattoo-Studios.
"Hier ist immer Betrieb. Immer", sagt ein Anwohner und eine andere Anwohnerin fügt hinzu: "Die Straße steht für ihren pulsierenden Takt." Aber seit dem Terroranschlag sei hier nichts mehr wie früher, sagen die beiden, die unerkannt bleiben möchten. "Ich erlebe es, dass man mehr zusammenrückt. Und dass man sich offener begegnet."

Zum Glück waren Schulferien

Die Ludwig-Wucherer Straße streift das gutbürgerliche Paulus-Viertel, sowas wie das Berliner Szeneviertel Prenzlauer Berg. Der Schock der Anwohner sitzt auch deshalb tief, weil viele das Gefühl haben, es hätte auch sie selbst oder ihre eigenen Kinder treffen können. Es war doch ein ungeheures Glück, dass die Tür der Synagoge gehalten habe und dass Schulferien waren, heißt es immer wieder. Denn gerade zur Mittagszeit, also zu der Zeit, als auch der Attentäter unterwegs war, stromern normalerweise sehr viele Kids und Grundschüler durch die Ludwig-Wucherer-Straße.
"Ich möchte nicht wissen, was gewesen wäre, wenn damals Schule wär. Möchte man sich gar nicht vorstellen." Ein Treffpunkt der Menschen in der sogenannten "LuWu" war lange der Kiez-Döner-Imbiss am oberen Ende der Straße. Studierende, Arbeiter, Büro-Angestellte, Beamte sind hier ein- und ausgegangen.

An Normalität ist noch nicht zu denken

Doch türkische Spezialitäten gibt es hier seit drei Wochen nicht mehr. Und der Laden ist geschlossen. Davor brennen hunderte Kerzen, man sieht ein Blumenmeer, weiß-rote Fahnen des Fußball-Drittligisten Hallescher FC wehen im Wind. Eine Art öffentlicher Traueraltar für den 20-jährigen Fußballfan Kevin S., den der Attentäter hier brutal erschossen hat. Viele Passanten, die vorbeikommen, halten inne. So mancher hat Tränen in den Augen. In den letzten Wochen war schon viel Bundesprominenz vor Ort. Am vergangenen Sonntag war auch Ronald Lauder, der Vorsitzende des Jüdischen Weltkongresses, da und hat Blumen niedergelegt.
An einem Mast vor dem Kiez-Döner in Halle sind Fanschals von Fußballclubs und eine Fahne des Halleschen FC angebracht, davor stehen Blumen und Kerzen und drei Personen und gedenken der Opfer. 
Der Imbiss an der Ludwig-Wucherer-Straße, wo ein junger Mann erschossen wurde, ist noch geschlossen.© dpa-Zentralbild / Soeren Stache
An Normalität sei noch lange nicht zu denken, erzählt der völlig schwarz gekleidete und aus der Türkei stammende Izzet Cagac, der Dönerladen-Besitzer. Ein drahtiger Mann mit strubbeligem Haar und Dreitagebart.
"Es ist immer noch Gesprächsthema. Definitiv. Und Schock sowieso. Den beiden Mitarbeitern geht es noch schlecht. Und wird auch immer schlechter. Ist ja auch nicht einfach, das so einfach zu verdauen."
Derzeit werden die Mitarbeiter von der Notfallseelsorge, der Mobilen Opferhilfe betreut. Auch Izzet Cagaz, obwohl er zur Zeit des Terroranschlags in der Türkei war, wirkt immer noch sehr mitgenommen.

Imbissbesitzer engagiert sich für Opferfamilien

Zusammen mit der Familie wohnt er seit zwanzig Jahren in Halle. Und besitzt insgesamt vier Imbiss-Läden. Den Laden in der Ludwig-Wucherer Straße will er seinen beiden Mitarbeitern überschreiben, die zur Zeit des Attentats dort gearbeitet haben und nur mit viel Glück überlebt haben.
"Naja, ich habe mir vorgenommen, das Geschäft an die beiden Brüder, die beiden Mitarbeiter, zu verschenken. Und die ganzen Kerzen, die hier stehen, würde ich am Ende der Trauerzeit mit einem Streifen oder Sticker bekleben und verschenken. Dafür würde ich eine kleine Spende nehmen. Das Geld würde ich dann an Traumatisierte, an Krebskranke und an die Opferfamilien spenden."
Wenn seine Mitarbeiter aber nicht weitermachen, den Laden nicht übernehmen wollen, dann werde er den Imbiss verkaufen, erzählt Izzet Cagac. Er werde sich jedenfalls nicht mehr hinter den Tresen in der Ludwig-Wucherer Straße stellen. Das gehe nicht, das könne er nicht.
Betreiber des Kiez-Döners, vor dessen Imbiss. Haseloff und der Opferbeauftragte der Bundesregierung haben den vom rechtsextremen Terroranschlag betroffenen Kiez-Döner besucht. Beide haben dem Imbiss-Besitzer und seinen Mitarbeitern Unterstützung zugesichert. 
Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, spricht mit Izzet Cagac.© dpa-Zentralbild/dpa / Jan Woitas
Aber so traurig es ist, sagt der Besitzer noch, bei den Menschen in Halle an der Saale habe sich seit dem Terroranschlag auch etwas verändert.
"Die sind freundlicher geworden. Auf jeden Fall. Netter, freundlicher. Grüßen jetzt immer. Vorher war es nicht so. Nur die paar, die man gekannt hat, haben gegrüßt. Ansonsten der Rest ist nur vorbeigelaufen. Aber jetzt, wenn ich hier stehe, ist es völlig anders. Das ist ein schönes Gefühl. Die Menschen stehen zu uns."

Botschaft an die AfD und die Identitäre Bewegung

Im Internet hat Izzet Cagac ein Manifest veröffentlicht. Der Tenor: Lasst Euch nicht spalten. Und weiter heißt es dort, Heimat sei nicht etwas, was man besitze, das einem allein gehöre, sondern Heimat sei dort, "wo wir uns mit dem Willen, etwas aufzubauen niederlassen, eine Familie gründen, Freunde finden und uns geborgen fühlen". Das sagt er auch in Richtung der AfD und der rechtsextremen Identitären Bewegung, die unweit des Kiosks ein Hausprojekt betreiben. Von deren Hass wolle er sich nicht beeindrucken lassen, sagt Cagac noch.
"Ich bin hier aufgewachsen, meine Kinder sind hier aufgewachsen, ich habe hier meine Geschäfte, ich habe hier meine Arbeit. Ich hab hier mein Haus. Wenn es nicht meine Heimat ist, was ist es dann? Ich sag immer: Auch wenn ich hier nicht geboren bin, auch wenn ich kein Deutscher bin, es ist mein Heimatland. Ich bezahle genauso wie jeder andere hier meine Steuern."
Izzet Cagac, Betreiber des Kiez-Döners, steht vor seinem Imbiss in Halle und telefoniert. Ministerpräsident Haseloff und der Opferbeauftragte der Bundesregierung haben den vom rechtsextremen Terroranschlag betroffenen Kiez-Döner besucht.
Haseloff und Opferbeauftragter in Halle© dpa-Zentralbild / dpa / Jan Woitas
Nach einer 40-tägigen Trauerzeit, so wie es im Islam üblich ist, wolle man am 16. November den Imbiss mit einem großen Fest wiedereröffnen. Izzet Cagac sagt, er wolle damit ein Zeichen setzen: gegen Rassismus, für mehr Liebe und Toleranz. Zuvor soll aber der Laden renoviert werden, damit die Mitarbeiter nicht ständig an den Terroranschlag erinnert werden.
"Ich wünschte, dass die Menschen mit der Liebe einen Weg finden."

Stadtteil komplett abgeriegelt

Insbesondere abends, also wenn der Kiosk durch die vielen Kerzen hell erleuchtet ist, bleiben die Leute stehen.
Eine von ihnen ist Katja. Sie kennt den Laden. Die 41-Jährige Studentin mit den Piercing in der Nase bekommt heute noch das Grausen, erzählt sie, wenn sie an den 9. Oktober und den Terroranschlag zurückdenkt. Damals war sie in Merseburg, während ihr fünfjähriger Sohn in der Kita in der Nähe des Dönerladens war. Und sie erinnert sich, wie sie von dem Terroranschlag hörte und dann nicht zu ihrem Kind kam. Der Stadtteil war komplett abgeriegelt und es fuhr auch kein Zug.
"Schrecklicherweise war ich nicht in Halle. Mein Sohn war hier, in seiner Kita. Und ich saß in der Uni Merseburg und war wie erstarrt, als ich davon hörte. Und ich konnte nicht zu meinem Kind, weil die Bahn nicht fuhr. Und die Kinder harrten Gott sei Dank hinter verschlossenen Türen. Aber es war ein Moment der Starre. Und der Ohnmacht. Schrecklich war das."
Die Angst um ihr Kind, sagt Katja, steckt ihr heute noch tief in den Knochen.
Das bunte, quirlige Lebensgefühl der Hallenser Szenemeile Ludwig-Wucherer Straße, wo es sogar einen Supermarkt gibt, der rund um die Uhr offen hat, es ist wieder da. Doch nur oberflächlich, sagt Katja noch. Denn das Leben wie früher, als man laut, lachend und schwatzend durch die Straße zog, spaßte, trank und rauchte, dieses lebensfrohe Gefühl sei noch lange nicht zurück.
"In den vier Wänden, im Freundeskreis hat das einiges aufgerüttelt. Aber Lösungen finden wir da auch nicht so schnell. Das ist schwierig anzupacken."
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