Nach dem Amoklauf von Winnenden

Gäste: Britta Bannenberg und Wolfgang Bergmann · 21.03.2009
Auch zehn Tage nach dem Amoklauf von Winnenden bleiben viele offene Fragen: Warum erschoss der 17-jährige Tim K. 15 Menschen und anschließend sich selbst? Was geht in den Köpfen solcher jungen Menschen vor, dass sie eine Waffe nehmen und wahllos töten?
Die Kriminologin Britta Bannenberg von der Universität Gießen sucht seit Jahren Antworten auf diese Fragen. Die Juristin untersucht u.a. die Hintergründe solcher Amokläufe und sieht Gemeinsamkeiten in der Persönlichkeit der Täter:

"Die wenigen Taten, die bisher bekannt geworden sind, zeigen fast übereinstimmend junge Männer, zurückgezogen, still, nicht gewaltauffällig. Aber in ihren geheimen Gedanken und Racheplänen, die sie durchaus anklingen lassen, machen sie die Schule, die Lehrer und Mitschüler verantwortlich für ihr eigenes Versagen, das sie durchaus erkennen. Sie verfügen über Waffen, befassen sich meist über Jahre mit bestimmten Computerspielen und Videofiguren, mit denen eine Art Identifikation eintritt. Das heißt, sie sind soziale Außenseiter, die mit sich sehr viele Probleme haben."

Probleme, für die die Umwelt – Familie, Schule, Freunde – oft nicht genügend sensibilisiert sei. "Viele Eltern merken, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt, sie merken, ich habe da jemanden, an den komme ich nicht ran. Oft haben sie auch ein besseres Verhältnis zu den anderen Kindern." Man lebe eher nebeneinander her, lasse die Söhne stundenlang am PC spielen, wisse aber nicht, was sie spielen. Viele Eltern wollten auch aus Scham nicht, dass diese Probleme nach außen getragen werden, hofften, dass sich diese Probleme auswachsen. Groß sei auch die Angst, sich an Psychiater oder Psychologen zu wenden.

Dabei könne mit professioneller Hilfe viel verhindert werden:
"Es könnte Klarheit geschaffen werden: Warum ist das Kind so still? Warum hat es Schwierigkeiten, Bindungen einzugehen? Warum hat es Angst vor der Schule? Die Schulangst ist unglaublich hoch! Wenn man auf so etwas reagiert, hat man doch nicht einen Amoklauf im Blick, sondern die Überlegung, welche Strategien man dem Kind mitgeben kann, damit es sein Leben meistern kann."

Sie mahnt, über die Betroffenheit angesichts des Amoklaufs nicht die weitaus größere Zahl von Kindern zu vergessen, die Probleme im Alltag haben, mit der Schule, ihren Eltern, die sich gemobbt fühlen, einsam, sich verschließen, die aber nicht durch eine solch spektakuläre Tat auffallen.

Auch der Wolfgang Bergmann, Erziehungswissenschaftler und Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie in Hannover, beobachtet eine Zunahme verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher:

"Die Kinder insgesamt sind immer mehr in Not. Die Zahl der Kinder, die auffällig sind, ist in den letzten 12 Jahren um 100 Prozent gestiegen! Bei den 12- bis 16-jährigen Mädchen haben wir immer mehr Fälle von Selbstwahrnehmungsstörungen, von Essstörungen, Selbstverletzungen. Kinder die isoliert sind, sind unglücklich! Sie haben die ursprüngliche Fähigkeit verloren, zu spielen und Kinder haben eine angeborene Lust zu spielen, miteinander zu spielen. Das ist auch das, was ich in meiner therapeutischen Praxis erlebe. Ich habe es mal hilfsweise ´sozialen Autismus` genannt. Die können reden, aber sie empfinden nichts, sie finden sich auch nicht widergespiegelt in den anderen. Und so wird das Ego immer ärmer und einsamer. Und das sind Warnzeichen, nicht nur für Amokläufe, sondern auch für Cannabiskonsum, Computersucht und – was wir zunehmend bei Mädchen beobachten – für Selbstverletzungen."

Die immer wieder aufflammenden Diskussionen über ein Verbot von Computerspielen oder Waffen hält der Autor mehrere Erziehungsratgeber für viel zu kurz gegriffen:

"Uns fällt immer nur Kontrolle, schärfere Gesetze oder Erziehung ein. Was isolierten Kindern fehlt, ist Bindung und intensive Liebe! Jeder Therapeut weiß: Die heutigen Kinder sind immer mehr auf der Suche nach Bindung, nach liebevollen Erwachsenen. Ich bin generell misstrauisch gegenüber Verboten. Eltern müssen liebevoll erziehen. Über Eltern, Freunde, Lehrer lernen Kinder ihre Realität zu lieben. Und Kinder, die ihre Realität lieben werden weder Amokläufer noch computersüchtig."

"Nach dem Amoklauf von Winnenden – Wie können wir unsere Kinder stark machen?" Darüber diskutiert Susanne Führer heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr mit der Kriminologin Britta Bannenberg und dem Erziehungswissenschaftler Wolfgang Bergmann. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800 – 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.


Links:
Prof. Dr. Britta Bannenberg

Wolfgang Bergmann


Literaturhinweise:
Britta Bannenberg und Dieter Rössner: "Erfolgreich gegen Gewalt in Kindergärten und Schulen", Beck Verlag 2006
Wolfgang Bergmann: "Halt mich fest, dann wird ich stark", Pattloch Verlag 2008
Wolfgang Bergmann: "Warum unsere Kinder ein Glück sind: So gelingt Erziehung heute", Beltz Verlag 2009