Mythos Woodstock

Den Optimismus von damals gibt es nicht mehr

13:43 Minuten
Statt den erwarteten 60.000 Besuchern pilgerten mehr als 400.000 zum Woodstock Festival, das am 15. August 1969 für drei Tage stattfand.
Ein Mythos, auch wenn sich die damit verbundene Hoffnung nicht erfüllt hat: das Woodstock-Festival, das am 15. August 1969 begann. © picture alliance / Keystone / Photopress-Archiv
Elisabeth Ruge im Gespräch Korbinian Frenzel · 15.08.2019
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Mit Ernüchterung blickt die Verlegerin Elisabeth Ruge heute auf die USA. Als Tochter des ARD-Korrespondenten Gerd Ruge verbrachte sie in den 1960ern dort ihre Kindheit. In Ruges Augen hat sich das mit Woodstock verbundene Emanzipationsversprechen nicht erfüllt.
Ein Signal für den Aufbruch in eine bessere, friedliche Welt - das war das Woodstock-Festival, das am 15. August 1969 begann. Die Verlegerin Elisabeth Ruge lebte damals in den USA, weil ihr Vater Gerd Ruge zu diesem Zeitpunkt ARD-Korrespondent in Washington war. Um an Woodstock teilzunehmen, war die 1960 geborene Ruge noch zu klein, aber nicht für eine große Anti-Vietnam-Demo, bei der etwa Bob Dylan und Joan Baez aufgetreten seien. Die Atmosphäre eines Landes, das in einem großen Umbruch ist, habe man auch als Kind "absolut wahrgenommen und aufgenommen", sagt Ruge.
In Washington sei das gerade in Bezug auf Rassendiskriminierung sehr spürbar gewesen, erinnert sie sich:
"Das war ja eine Stadt, in der sehr viele Afroamerikaner lebten. Die Stadt hat in weiten Teilen gebrannt, da war bürgerkriegsartige Atmosphäre, also, es gab große Unruhen." Doch trotz der Ermordung Martin Luther Kings und anderer habe man immer das Gefühl gehabt, auf dem Weg in bessere Zeiten zu sein.

"Große Ernüchterung und Enttäuschung"

Dass diese Hoffnung trügerisch war, ist der Verlegerin spätestens vor fünf Jahren klargeworden. Damals wurde in der Kleinstadt Ferguson der 18-jährige Afroamerikaner Michael Brown von einem Polizisten erschossen, worauf es zu großen Unruhen kam. "Da hat man zum ersten Mal begriffen, dass eben doch die Politik der Aufhebung der Rassentrennung zwar auf dem Papier zu sehen ist, aber doch in weiten Teilen des Landes noch nicht wirklich greift", sagt Ruge. "Da ist für mich doch eine große Ernüchterung und eine große Enttäuschung eingekehrt."
Einen Grund dafür, dass es mit Love and Peace überall doch nichts geworden ist, vermutet Ruge darin, dass Woodstock in gewisser Weise auch ein Wohlstandsphänomen war: "Die Gelassenheit, die dieser Veranstaltung innelag, hatte auch damit zu tun, dass man einfach das Gefühl hatte, es gibt genug für alle, wir müssen es ein bisschen anders verteilen, aber das kriegen wir hin."
Die Verlegerin und Literaturagentin Elisabeth Ruge, im Hintergrund ist eine Straßenkulisse zu sehen
Die Verlegerin und Literaturagentin Elisabeth Ruge© Stefan Nimmesgern
Heute hingegen habe durch Digitalisierung und Globalisierung eine unglaubliche Beschleunigung eingesetzt: "Die hatte man natürlich nicht vor Augen", so Ruge. Auch fühlten sich viele Menschen unsicher, was ihre wirtschaftliche Lage betrifft. Das löse Aggressivität aus und sorge dafür, dass der fundamentale Respekt bröckele, der die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens sein müsse.
(uko)

Elisabeth Ruge, geboren 1960, ist Literaturagentin in Berlin. Die ersten zehn Jahre ihres Lebens verbrachte sie in den USA, bevor sie 1970 mit ihrer Familie zurück nach Deutschland zog. Nach einer Lehre als Verlagsbuchhändlerin studierte sie Anglistik, Amerikanistik und Slawistik in Frankfurt am Main und am Radcliff College der Havard University. Nach Jahren als Lektorin und Verlegerin kehrte sie 2014 der Berliner Dependance des Hanser-Verlages den Rücken und gründete ihre eigene Literaturagentur. Ruge vertritt zahlreiche renommierte Schriftsteller und hat unter anderem den Literatur-Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch mitgewonnen, die sie ins Deutsche übersetzen ließ.

Die gesamte Sendung "Der Tag mit Elisabeth Ruge" können Sie hier nachhören: Audio Player
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