Mythos Woodstock

Von Tom Noga · 16.08.2009
"Drei Tage des Friedens und der Musik" verhieß das Konzertplakat - eine charmante Untertreibung angesichts von 500.000 Hippies, die sich vom 15. bis zum 17.8.1969 auf einer in Bethel im US-Staat einfanden, um die Pop-Größen jener Zeit zu sehen.
Duke Devlin: "Irgendwie war ein Kumpel an eine Liste der Bands gekommen, und alle sprachen von Woodstock: So viele tolle Bands auf einmal, das war wie das Who’s Who der Jugendkultur. Das Ganze sollte auf einer Farm stattfinden, über drei Tage mit jeder Menge coolem Zeug, einem Streichelzoo, einem Indianerdorf und einem Markt für Kunstgewerbe. Unten auf dem Plakat stand: Kommt alle! Mann, es war klar, dass wir kommen mussten! Die Leute strömten von überall herbei, schon auf dem Weg hast du gespürt dass etwas Großes bevorstand, weil so viele Leute auf dem selben Trip waren."

Duke Devlin geht ganz in blau, in Hosen und Hemd aus Jeansstoff. Die weißen, rückenlangen Haare hat er zum Zopf gebunden, der Vollbart, ebenfalls weiß, fällt auf seinen kugelrunden Bauch. Duke schält sich aus seinem Golfwagen, mit dem Gehen hat er es im Alter von 67 Jahren nicht mehr so, und stapft einen kleine, halb von Zypressen eingefasste Anhöhe hinauf. Drumherum Farmland. Oben ist eine Gedenktafel in den Boden eingelassen, darauf ein petrolfarbener Gitarrenhals, auf dem eine weiße Taube sitzt. "This is the original site of the Woodstock Music and Arts Fair held on August 15, 16, 17 1969", steht darunter: Auf dieser Wiese bei Bethel im US-Staat New York hat das Festival stattgefunden. Neben der Inschrift eine Liste der Bands und Sänger, die in Woodstock aufgetreten sind.

Devlin: "Jimi Hendrix, Janis Joplin, The Who, Grateful Dead, Ten Years After ... da wären Sie doch auch gekommen?"

Nun ja, nicht unbedingt, das ist auch eine Generationsfrage. Duke Devlin lächelt milde über so viel Ignoranz und fährt ungerührt fort: "In der Senke da unten, dort hat die Bühne gestanden." Die Stelle ist gut zu erkennen, bis heute wächst dort kein Gras.

Devlin: "Dahinter war der Backstage-Bereich, sie hatten eine Brücke über die Straße gebaut. Den Hügel vor uns hinauf saßen, standen und lagen eine halbe Million Menschen. Und weitere anderthalb Millionen waren unterwegs hier her. In der ganzen Gegend brach der Verkehr zusammen. Die Leute ließen ihre Autos irgendwo stehen und gingen zu Fuß weiter, manche bis zu 50 Kilometer weit."

Ein Auto fährt vor, ein Paar in den 50er steigt aus, Cindy und Tim. Sie mit auftoupierten blondierten Haaren in einem rosafarbenen Fleece-Anzug, er mit Halbglatze in Jeans, Polohemd, und Turnschuhen. Er ist in Woodstock gewesen, trumpft Tim zur Begrüßung auf, mit 15.

Tim Kelly: "There was a chain-link-fence all along the road here and it ended about there …”"

Das ganze Areal hier war eingezäunt, erzählt Tim weiter. Aber nach tagelangem Regen haben die Pfosten nicht gehalten, die Leute haben den Zaun einfach niedergetrampelt. So ist Woodstock für die meisten zum Gratiskonzert geworden.

Ein bisschen zu glatt und fleischlos klingen seine Erinnerungen.

Tim Kelly: ""There was a gent with a sheep saying: "Don’t eat our animals, friends …”"

Und die Leute, die er beschreibt, kennt man aus Büchern oder dem Film über Woodstock. Aber vielleicht sind das nur die zynischen Gedanken eines Nachgeborenen. Duke Devlin jedenfalls lauscht andächtig und stimmt eifrig zu, als Tim sich über Woodstock 2 und 3 auslässt, die beiden großen Festivals, mit denen der Mythos zum 25. und 30. Jahrestag noch einmal kommerziell ausgeschlachtet wurde.

Devlin: ""Das waren Rock-Konzerte, keine Woodstocks. Es gab nur ein Woodstock – hier, wo wir gerade stehen."

Ein Foto noch, dann rauschen Cindy und Tim wieder ab.

Devlin: "Take care buddies, take care. Nice meeting you."

"Früher haben Veteranen wie Tim nur allenfalls zu den Jahrestagen den Weg zurückgefunden. Aber seit einiger Zeit", fährt Duke fort, "kommen sie das ganze Jahr über." Das hat mit dem Woodstock Museum zu tun, einem lang gestreckten Gebäude aus Steinquadern mit pagodenartigem Holzaufbau, das auf einem Hügel der gegenüber der ehemaligen Bühne thront. Duke Devlin steigt grinsend in seinen Golfwagen und fährt rüber: Ein gute Sache ist das Museum, auch weil dadurch ein neuer Job für ihn herumgekommen ist.

Devlin: "Sie haben mich als Museumsführer angestellt. Ich liebe Dönekes, ich rede gerne mit Leute, ich würde das wohl auch ohne Geld machen."

Duke stapft durch eine Flügeltür aus Zedernholz hinein in eine multimediale Reise durch die 60er-Jahre, von Kennedy über den Vietnamkrieg und den Sommer Liebe 1967 bis zum Festival. Dukes Lieblingsinstallation ist die "Woodstock Experience", eine Rotunde mit raumhohen Lautsprechertürmen und bis unter die Decke reichenden Leinwänden.

Er fläzt sich in ein Sitzkissen mitten im Raum. Vor, links, recht, über ihm läuft das Festival im Schnelldurchlauf ab: drei Tage in neun Minuten. Duke wird sentimental: "Spürst du auch den Regen auf der Haut?" Seit 40 Jahren dreht sich sein Leben um Woodstock.1969 ist er vom Texas Panhandle zum Festival getrampt und geblieben, weil das Geld alle war. Er hat beim Aufräumen geholfen, sich verliebt, geheiratet und ganz in der Nähe einen Bauernmarkt aufgezogen. Warum auch nicht, die Landschaft ist bezaubernd: lauschige Wälder, sanfte Hügel, kristallklare Seen und verwunschene kleine Orte "ohne golden arches", wie Duke sagt: ohne McDonalds. Aber der eigentliche Grund für sein Bleiben sind jene drei Tage im August 1969.

Devlin: "Die Stars in Woodstock waren wir, die Zuschauer. Weißt du warum? Eigentlich war Woodstock ein totaler Fehlschlag. Sie haben mit 25, 30, vielleicht 40.000 Leuten gerechnet. Es hat geregnet, es war nass, es gab kam etwas zu essen, immer wieder brach die Anlage zusammen. Was schief gehen konnte, ging schief, aber wir sind friedlich geblieben. Manche waren wegen der Musik da, andere wegen den Drogen, weil sie gegen den Vietnamkrieg waren oder gerne nackt herum liefen. Aber egal, warum du gekommen bist, der friedlichen Stimmung und diesem Gemeinschaftsgefühl konntest du dich nicht entziehen. Ich bin du und du bist ich – so einfach war das. Wir waren hier, um zu tun, was richtig ist. Und deshalb reden wir heute noch über Woodstock."

Duke Devlin rappelt sich auf, verlegen lächelnd, und geht zurück zum Eingang des Museums. Dort wartet ein halbes Dutzend Rentner auf ihn, alle in uniformen, grauen T-Shirts mit der Inschrift "Woodstock Revival Tour". Duke entschuldigt sich – die Arbeit ruft.

Duke: "Auf Wiedersehen."

Samstagmittag in Woodstock, New York, dem Städtchen, das dem Festival den Namen gegeben hat. Unterwegs mit Weston Blelock. "Hippies always welcome", verheißt eine Tafel vor den Woodstock Legends, einem Souvenirladen auf der Hauptstraße.

Drinnen läuft "The fool on the hill" von den Beatles, und man ertappt sich bei dem Gedanken, dass die Besetzung in Woodstock so hochkarätig doch nicht gewesen ist: Ohne Beatles, Stones, Doors, Pink Floyd und Led Zeppelin, stattdessen mit Folkies wie Melanie und der Incredible String Band sowie der Rockabilly-Showtruppe Sha Na Na.

Im "Woodstock Legends" gibt es mit Samtborten verzierte Hemden, wie Jimi Hendrix sie getragen hat, und Smokblusen im Stil von Janis Joplin, es gibt Schilder von real existierenden Straßen aus der Pop-Geschichte wie der "Abbey Road" und fiktiven wie dem "Dead Head Way". Und es gibt einen fünf mal fünf Meter großen Wandteppich mit dem Konterfei von The Band.

"Das Bild darauf wurde ganz in der Nähe aufgenommen", erzählt Weston, "auf einem Grundstück namens Big Pink. Dort hat die Gruppe in den 60er-Jahren gelebt". Er zeigt auf ein hellblaues Holzhaus: Nicht nur sie, Weston zeigt auf ein hellblaues Holzhaus: Dort haben der Folksänger Arlo Guthrie und John Sebastian von den Lovin’ Spoonful gewohnt, einen Block weiter Joe Cocker. Sie alle sind beim Festival aufgetreten.

Weston Blelock: "In Woodstock war damals richtig was los, viele Musiker kamen, weil Bob Dylan hier lebte. 1967, nach seinem Motorradunfall ist er zum Einsiedler geworden, aber vorher war Woodstock ein Mekka für alle möglichen Bands."

Weston Blelock ist ein steifer Typ in Stoffhose, kariertem Hemd und Tweed-Sakko, breitschultrig, mit kantigem Gesicht unter dem akkuraten Kurzhaarschnitt. Er wurde in Woodstock geboren und ist hier aufgewachsen, bis auf ein paar Jahre, die er auf einer Privatschule in Schottland verbracht hat. Mit seiner Schwester Julia verlegt er Bücher über Woodstock, das Städtchen, nicht das Festival. Ein netter Ort ist das, in einem engen Tal, umgeben von bewaldeten Hügeln

Weston schreitet die Hauptstraße entlang, vorbei an Cafés und Bio-Läden, Boutiquen und Galerien. Die Fassaden der Häuser sind bunt. "Das ist nicht jedermanns Sache", formuliert Weston vorsichtig, "aber so mögen es die Leute hier. Hauptsache farbig. Ein Künstlerdorf eben." Vor einem zweistöckigen Holzhaus mit Veranda zur Straße bleibt er stehen. "Museum für Fotografie" steht über der Tür. In den 60er Jahren ist hier das Café Espresso gewesen.

Weston Blelock: "Bob Dylan hing hier immer rum, und die Besitzer überließen ihm einen Raum im ersten Stock. Dort hat er viele Songs geschrieben. Unten hatten sie den so genannten Familientisch, und Dylan kam oft runter, ganz höflich: "Ich habe einen neuen Song, wollt Ihr ihn hören?" Er spielte auch in den lokalen Clubs, wenn einer zumachte, zog er zum nächsten. Und in den Morgenstunden trafen sich alle Musiker irgendwo und improvisierten gemeinsam."

"Eine schöne Zeit war das", sinniert Weston, während ein angedeutetes Lächeln seinen Mund umspielt. Er biegt in eine Seitengasse ab, die steil bergauf führt und an einer offenen Weide endet. Aus den Sessions sind kleine Festivals entstanden, die so genannten "Sound Outs. Und hier haben sie stattgefunden. Weston setzt sich ins Gras und schließt die Augen.

Blelock: "Die Sound Outs waren unglaubliche Erlebnisse, zwanglos, draußen, du warst den Musikern nah – das war damals alles neu. Wie eine private Party, ohne Ankündigung, aber die Nachricht machte trotzdem die Runde und alle Leute kamen. Woodstock sollte ähnlich werden, aber die Sache wurde zu groß. Die Energie hat sich in hier im Ort aufgebaut, aber das Festival musste woanders stattfinden, weil wir hier nicht genug Platz hatten."

Statt Woodstock also Bethel. Einerseits schade, findet Weston, denn mit dem Festival ist diese ganz besondere Musikszene in Woodstock, dem Ort, gestorben: "Joe Cocker und The Band haben plötzlich Stadien gefüllt, aber hier bei uns hat man sich nicht gesehen." Andererseits, und dabei erlaubt sich dieser nüchterne, seine Wort wägende Mann eine Spur Emotionalität, ist das Woodstock, das Festival, durch seine schiere Größe zum wichtigsten Ereignis seiner Generation geworden.

Blelock: "Das Land steckte damals in einem unpopulären Krieg, und die jungen Leute hatten den Eindruck, dass sie nichts zu sagen hätten. Dieses Festival fand statt, ohne dass die so genannten Autoritäten etwas dagegen machen konnten. Allein das zeigte, dass die Jugend nicht ohnmächtig war. Drei Tage lang kam alles zusammen, die Protest- und Bürgerrechtsbewegungen und die Musik, und man sah, welche Kraft diese Generation hatte. Aber leider war es wie ein wunderschöner Duft, der eben nur drei Tage anhält, aber nicht länger."

Weston Blelock steht auf. Er klopft sich sorgfältig die Grasreste von Hose und Sakko. Hier wo alles begonnen hat endet seine Tour durch Woodstock.

Joyce Beymer sitzt in einem Café auf der Hauptstraße, in dem die 60er-Jahre scheinbar nie zu Ende gegangen sind. Die weiblichen Gäste, egal welchen Alters, tragen Walle-gewänder in Erdfarben, die männlichen gebatikte T-Shirts, lange Haare und Bärte. Auch Joyce erinnert sich an das Festival.

Joyce Beymer: "Es war einfach Wahnsinn: Ich kam dort and sah dieses Menschenmeer. Und sie waren ja noch nicht mal alle da. Du kommst über diese Kuppe und blickst plötzlich auf 300.000 Menschen! Ich meine, das waren die 60er, wir waren weit entfernt von so etwas wie Globalisierung, ich war damals auch noch nicht gereist. Ich kam aus einer kleinen Stadt in New Jersey und hatte noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen. Allein das war unglaublich. Und diese Menschen hatten eine Vision und ein musikalisches Gefühl. Alles was du mitgebracht hattest, wurde weitergegeben, und damit war es weg. Aber wenn du lange genug sitzen geblieben bist, ist etwas anderes zurückgekommen. Alles wurde geteilt, du musstest dich nicht einmal bewegen. Das war wie ein riesiges Familienpicknick."

Joyce Beymer ist eine kleine Frau mit fast weißen, kurzen Haaren. Sie hat eine Sonderbeilage des Nachrichtenmagazins "Time" mitgebracht, erschienen eine Woche nach dem Festival. Versonnen blättert sie darin herum. Bei einem Bild bleibt Joyce hängen. Sie schmunzelt.

Beymer: "Das sind die Klos, sie standen in einer Senke, die bald überflutet war. Die Leute haben Abflussrinnen gegraben und Holzplanken darüber gelegt. Wer morgens um drei in totaler Dunkelheit aufs Klo wollte, musste ziemlich trittsicher sein, um nicht in den Matsch zu fallen. Oder du bist in den Matsch gefallen. Oder in die Scheiße, wer konnte das schon unterscheiden.? Es war uns egal, denn was immer uns passierte, war gut."

Das Essen kommt: Ein Tofu-Burger auf Vollkornbrot mit buntem Salat. Das Brot wird vor Ort gebacken, das Gemüse ist von lokalen Bauern. Woodstock ist politisch korrekt, wer will kann in vielen Geschäften mit dem "Woodie" bezahlen, einer Parallelwährung, die Erzeuger und Händler eingeführt haben, um die lokale Ökonomie zu stärken. Auch deshalb ist Joyce zurückgekehrt nach Jahren, in denen sie sich als Malerin durchschlägt. Jetzt hat sie ein kleines Grafikbüro und zieht ihren Sohn in einer heilen und überschaubaren Welt auf.

Beymer: "Hier: Wir tanzen unterm Sternenhimmel mit einer Hand winkend – das ist von Bob Dylan. Ja, wir haben geschlafen und getanzt, und am Ende sahen wir alle so aus wie die da: total verdreckt. Und hier, Nacktbaden, das war ein Riesenskandal in den Nachrichten."

Joyce blättert weiter. Die Bands auf und hinter der Bühne, Zuschauer, die sich dicht an dicht unter Planen drängen, die nur notdürftig Schutz vor dem Regen bieten. Ach was, Regen, Wolkenbrüche waren das! Joyce lacht auf, auch das hat Woostock ausgemacht, dieses Gefühl, den Urgewalten zu trotzen, nicht aufzugeben.

Nächste Seite. Ein Foto, geschossen von der Bühne über die Menschenmenge hinweg. Darunter steht: "By the time we got to Woodstock, we were half a million strong" – "Als wir nach Woodstock kamen, waren wir eine halbe Million." Die Bildzeile unter einem anderen lautet: "We are stardust, we are golden and we’ve got to get ourselves back to the garden" – "Wir sind Sternenstaub, wir sind golden. Und wir müssen den Weg zurück ins Paradies finden". Beide Zeilen stammen aus der Hymne "Woodstock" von Joni Mitchell.

Joyce Beymer seufzt: "Diese Zeilen drücken exakt aus, was ich bei Woodstock fühle, eine Mischung aus Euphorie und Wehmut."

Beymer: "Woodstock war der Höhepunkt, der Moment, der meine Generation geprägt hat. Und ... ich möchte nicht sagen: das Ende, denn so etwas wie ein Ende gibt es nicht."

Was geblieben ist? Joyce Beymer beißt in ihren Tofuburger und überlegt. Dann verweist sie auf die globale Wirtschaftskrise. Und sie redet von Barrack Obama und seiner Botschaft des "change".

Beymer: "Wir haben eine Sensibilität für die Erde entwickelt, für unsere Mutter Erde, die wir schützen müssen, wir haben uns um unsere Mitmenschen gekümmert, weil wir alle Brüder und Schwestern sind. Das sind die Grundwerte meiner Generation. Heute sind diese Werte etabliert, aber sie sind alles andere als neu. Wir haben immer so gedacht und so haben wir unser Leben geführt. Unser Mantra haben wir nie verleugnet. Wir haben immer daran geglaubt, dass wir etwas verändert können. Das politische Klima war nicht immer so, dass wir uns durchsetzten konnten. Aber auch das hat sich geändert. Und all das hat hier begonnen."

Ein letzter Biss in ihren Tofuburger, dann klappt Joyce Beymer die Sonderausgabe von "Time" zu, ordert die Rechnung, verabschiedet sich.

Eine Scheune aus in den Wäldern um Woodstock, dreigeschossig, der Innenraum galerieartig ausgebaut. In der Mitte sind Instrumente aufgebaut, Schlagzeug, Klavier, Bass, Banjo, Saxophon, Trompete, ein paar Gitarren, eine Fiedel. Darüber hängt die amerikanische Flagge. Im Eingang liegen Musikzeitschriften aus, Gratisblätter mit Artikel über Größen von einst wie Arlo Guthie oder Phil Lesh, dem ehemaligen Bassisten der Grateful Dead. Rund hundert Leute, darunter Weston Blelock und Joyce Beymer, drängen sich in der Scheune, die meisten sind zu Zeiten von Woodstock jung. Mittendrin ein kleiner, hagerer Mann ganz in schwarz. Ein Händeschütteln hier, eine Umarmung dort.

Levon Helm: "Ja, ich war schon vor dem Festival hier und bin nie mehr weggegangen. Woodstock ist genau richtig, nur zwei Stunden von der Stadt entfernt. Und das war mein Traum als Kind unten in den Baumwollfeldern des Südens Ich wollte immer nach New York, Bruder!"

Levon Helm ist eine Legende, als Schlagzeuger bei The Band, ist er in Woodstock aufgetreten. Die Scheune ist sein Studio, erzählt Levon, hier produziert er mit Stars wie Eric Clapton, Keith Richards und Elvis Costello. Ein, zweimal im Monat tritt er hier auf, im Rahmen des "Midnight Ramble", einer Samstagsshow von acht Uhr abends bis nach Mitternacht. Levon klemmt sich hinter sein Schlagzeug, seine Tochter greift zum Mikrofon

Willkommen zum "Midnight Ramble". Dann rattert sie die Verbotsliste runter: keine Handys, keine mitgebrachten Getränke, Rauchen schon gar nicht. Und nicht vergessen, nach Auftritt unten im Andenkenladen reinzuschauen, davon leben Musiker heutzutage.

Die improvisierte Bühne ist entschieden zu eng für die zwölfköpfige Levon Helm Band und ihren heutigen Überraschungsgast, Donald Fagen von Steely Dan. Trotzdem ist die Stimmung der Musiker ausgelassen. Ihre Songs oszillieren zwischen Blues, Country, Jazz, Folk, Bluegrass und allem was die amerikanische Musiktradition hergibt. "Das ist wie bei den Sound Outs" raunt Weston Blelock, den Festivals, aus denen die Idee zu Woodstock entstanden ist. Nur dass der "Midnight Ramble" 150 Dollar Eintritt pro Person kostet.

Über drei Stunden dauert der Auftritt, ohne Pause. Das Publikum ist begeistert, immer wieder brandet frenetischer Applaus auf. Besonders beim letzten Song, "The Weight". Das Lied hat Levon mit The Band in Woodstock gespielt.

Eine halbe Stunde später in Levon Helms Küche. In der Mitte ein riesiger, rechteckiger Tisch, der sich unter Salatschüsseln, Kaffeetassen und den Resten mehrere Mahlzeiten beugt. Drum herum sitzen die Musiker mit Freunden und Freundinnen. Alle sind ausgelassen, wie kleine Kinder.

Woodstock? Levon Helm wippt mit dem Oberkörper vor und zurück. Dann legt er los.

Helm: "Ich weiß nicht, das Festival hat Woodstock international bekannt gemacht, das ist das Beste daran. Aber Woodstock hat nie versucht für Popmusik zu werden, was Nashville für Country ist. Es ist mehr so: Wenn die Leute her kommen und es wollen, dann geben wir es ihnen. Und für uns als Band war Woodstock nur ein weiterer Auftritt, Bei dem du nichts hörst und kaum etwas siehst und verdammt froh bist, wenn’s endlich vorbei ist. Befriedigend war das nicht, wie willst Du auch einen vernünftigen Auftritt hinlegen, wenn Du das Gefühl hast, dein Kopf steckt in einer Tonne?"

Vier Jahre später spielt The Band bei einem Festival in Watkins Glen. "Perfekte Organisation, Top-Besetzung, legendärer Auftritte", schwärmt Levon, "und 600.000 Zuschauer, mehr als in Woodstock." Aber von Watkins Glen spricht heute niemand mehr. Levon Helm zuckt mit den Schultern: "Das Leben ist eben ungerecht."