Enttäuschter Westen

Der blinde Fleck der Vernunft

Ein Mann bedeckt die Augen mit seinen Händen (Illustration)
Der Westen ist entsetzt und geradezu gekränkt, so lange Zeit darauf vertraut zu haben, das Böse erfolgreich bekämpft zu haben, meint Christian Schüle. © Getty Images / Boris Zhitkov
Ein Kommentar von Christian Schüle · 14.04.2022
Der Krieg ist zurück in Europa. Weder ökonomischer Handel noch Vernetzung haben das verhindert. Der Westen habe geglaubt, das Böse lasse sich wegrationalisieren, meint der Publizist Christian Schüle. Doch mit Vernunft oder Moral sei dem nicht beizukommen.
Mit dem auf lächerliche Weise legitimierten Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist das absolut Schlechte nach Europa zurückgekehrt. Und mit ihm all das, was wir liberaldemokratische Rationalisten aussortiert zu haben glaubten: das Mörderische, Martialische, Militärische und Mythische. Kurzum: das Böse. 

Vornehmlich wir Deutsche, aus deren Schoß das Böse ja schon einmal so dramatisch zerstörerisch geschlüpft ist, waren auf edle Weise naiv genug zu glauben, ebendieses Böse ließe sich durch ökonomische Vernunft, durch Verflechtung und Vernetzung sublimieren. Gestählt in kultivierter Militärverachtung dachten wir ja doch, Aggression und Auslöschung überwunden zu haben, zumindest in einem Europa, das sich nach seinen Selbstzerstörungen mühsam selbst gereinigt hatte.

Haben wir nicht die Lehren unserer Faschismus-Geschichte verstanden und mit diplomatischer Raffinesse die Rationalität von Vertrag und Vorteilsnahme zu einem bisherigen Höhepunkt der Humanität geführt?

Das Böse lässt sich nicht wegrationalisieren

Wir, die wir theoretisch noch immer mit Kant und Habermas jedem einzelnen Individuum kommunikative Rationalität unterstellen und im herrschaftsfreien Diskurs auf die Einleuchtung des besseren Argumentes setzen, nahmen mit der Unschuld der Diskursethik an, dass die beste aller Welten, geschichtsphilosophisch betrachtet, nur noch eine Frage der Zeit sei. 

Nun aber zeigt uns das Böse so brutal und brachial die höllische Fratze des Antichristen. Und wir sind entsetzt und geradezu gekränkt, so lange Zeit darauf vertraut zu haben, das Böse mit Kranzniederlegungen, Feierstunden und Andachtsbeschwörungen ein für allemal aus Europa hinausmoralisiert, mit Handel hinwegkommerzialisiert und mit Interessenpolitik hinfortrationalisiert zu haben – seit Jahren mit der Mission unterwegs, mittels moralischer Korrektheit die halbe Welt kulturell zu dem zu erziehen, was wir für gut und gut begründet halten. 

Gegen den Mythos ist die Vernunft chancenlos

Es charakterisiert das Böse ja, dass es für es keine Gründe gibt, und gute schon gleich gar nicht. Die Vernunft verliert immer, wenn ihre Voraussetzungen nicht mehr von allen gleichermaßen geteilt werden.

Wie alle ethno-nationalistischen Autokraten und Tyrannen bedient sich auch der Hobbyhistoriker Wladimir Putin aus dem selbst angelegten Vorrat reaktionärer Mythologien von Macht, Stärke und Großräumen und sieht das höchste Gut der Staatskunst keineswegs in Wohlstand und Wohlfahrt für sein eigenes Volk, sondern in der Vernichtung anderer Völker.

Gegen den Mythos ist der Logos so chancenlos wie der individuelle Verstand gegen die kollektive Gehirnwäsche durch Propaganda. Das Pathos der Mythologie ist der blinde Fleck der Vernunft. 

Putins heilsgeschichtlich verschwiemeltem Revisionismus steht der mythenfreie Westen in Ohnmacht und Fassungslosigkeit gegenüber, weil der lupenreine Diktator im Kreml-Kokon diese Fassungslosigkeit und Ohnmacht eiskalt einkalkuliert zu haben scheint. Georgien, Tschetschenien, Syrien, die Krim ... und Putin sah: Das Böse wird immer davonkommen, wenn es sich darauf verlegt, das Gute zu übertölpeln. 

Doch Hilfsbereitschaft gibt Hoffnung

So leidet der Westen nicht nur am Putinismus, sondern an seinem eigenen ehrenwerten Pazifismus und dem enttäuschten Glauben an seine Werte, die er übrigens, wenn es passt, auch gern selbst mal suspendiert. Vom Archaischen überwältigt stehen die Europäer nun da, schwenken Fähnchen, setzen ein Zeichen nach dem anderen und müssen akzeptieren, dass mit dem Bösen immer und immer noch zu rechnen ist. 

Die Empörung über den Tod jedes einzelnen Menschen aber, die Einfühlung und Hilfsbereitschaft so vieler, auch wenn sie hier und da selbstgerecht sein mag – diese universale Moral des zivilen Beistands gibt der apokalyptisch getönten Gegenwart ein Quäntchen vorösterliche Hoffnung, dass das Gute zwar nie vollendet sein wird, aber auch nicht verloren ist. 

Zumal Gott in diesen Tagen wieder einmal schweigt.

Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert. Er hat einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin und lebt als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg. Unter seinen zahlreichen Büchern sind der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die Essays „Heimat. Ein Phantomschmerz“ sowie „In der Kampfzone“.

Porträt des Autoren und Publizisten Christian Schüle
© picture alliance / Frank May
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