Mythos der griechischen Geschichte

Von Christian Berndt · 12.09.2010
Die Schlacht bei Marathon wirkt noch für das heutige Griechenland identitätsstiftend. Die Athener kämpften gegen die übermächtigen Truppen der Perser. Die Athener gewannen, doch die Perser waren nicht besiegt.
Etwa 8000 Hopliten - schwerbewaffnete Fußsoldaten - hat Athen gesandt, dazu kommen 1000 Mann aus Plataiai. In der Ebene von Marathon, nur 40 Kilometer entfernt von Athen, stehen sie einer persischen Armee von circa 25.000 Mann gegenüber. Wer im Morgengrauen dieses 12. September 490 vor Christus angreift, ist unklar, der griechische Historiker Herodot überliefert, dass die Griechen losstürmen:

"Die Perser sahen sie im Laufschritt herankommen und rüsteten sich, sie aufzuhalten. Sie warfen den Athenern Wahnsinn vor, völlig verderblichen Wahnsinn, als sie die kleine Schar heranstürmen sahen."

Nur aus wenigen Reihen besteht die griechische Phalanx, aber an den Flanken gelingt es, die Perser zu umschließen, nach hartem Kampf werden sie in die Flucht geschlagen. Doch besiegt sind die Perser keineswegs, sie hatten nur ein begrenztes Truppenkontingent geschickt. Ziel des Feldzuges ist es, Athen zu bestrafen, weil es den Aufstand griechischer Städte in Kleinasien gegen die Perser unterstützt hat. Die Athener sollen durch die Wiedereinsetzung des früheren Tyrannen Hippias auf Linie gebracht werden, wie der Althistoriker und Marathon-Forscher Michael Jung erzählt:

"Man sieht letztlich, dass das ganze Aufgebot eigentlich nur das Ziel hatte, in Athen einen politischen Umsturz auszulösen, den Tyrannen wieder einzusetzen und damit eine perserfreundliche Regierung in Athen zu schaffen. Das heißt, das Ziel der Perser 490 war nicht die Unterwerfung ganz Griechenlands."

Athen kämpft fast alleine - auf die Unterstützung anderer griechischer Städte, von denen manche die tolerante Hegemonie Persiens einer Dominanz Athens vorziehen, kann es kaum rechnen - auch die griechische Führungsmacht Sparta fehlt. Doch die Athener Volksversammlung riskiert den Krieg, die Bürgerschaft ist selbstbewusster geworden. Seit dem Sturz der Tyrannenherrschaft 20 Jahre zuvor hat sich die politische Situation verändert. 508 vor Christus führte der Politiker Kleisthenes eine Verfassungsreform durch, die auf größere Bürgerbeteiligung zielte. Athen ist auf dem Weg zur Demokratie, und der Sieg bei Marathon gilt als Triumph der neuen Ordnung, die jetzt das Gedenken an die Schlacht zur Staatsaufgabe macht:

"Das deutlich erkennbare Element ist letztlich auch die Frage, wie werden denn die gefallenen Marathonkämpfer bestattet? Die werden zum ersten Mal, alle gemeinsam in einem Grab bestattet. Und das bedeutet, die bisherige Form der Bestattung, dass nämlich jede Familie selbst für ihre Gefallenen sorgt und damit auch letztlich soziale Unterschiede markieren kann, genau das wird für Marathon zum ersten Mal aufgehoben. Und das ist ein entscheidender Weg hin zur athenischen Demokratie."

Zehn Jahre später, als der neue Perserkönig Xerxes einen Feldzug startet, dieses Mal mit dem Ziel, Griechenland zu unterwerfen, kommt es zu einem Bund griechischer Städte, allerdings unter Führung Spartas. Gemeinsam gelingt es den Griechen bei Salamis und Plataiai, die Perser zurückzuschlagen. Historiker werden den Sieg später den Geburtsschrei Europas nennen, Hegel wird in den Perserkriegen den Sieg westlicher Freiheit über östlichen Despotismus preisen. Doch in Wirklichkeit bleibt das Persische Reich bestimmender Faktor im Mittelmeer. Athen, das zur Führungsmacht Griechenlands aufsteigt, und Sparta werden zu Todfeinden - die Folge sind 30 Jahre Krieg. Als Athen 404 vor Christus gegen Sparta kapituliert, bleibt Marathon als Erinnerung an glorreiche Zeiten. Der Redner Isokrates erklärt:

"Ich glaube, diesen Krieg hat einer der Götter entzündet aus Wohlgefallen an ihrem Heldenmut, damit nicht von der Natur so herrlich ausgestattete Menschen unbekannt blieben. Wer das beherzigt, der muss über die Gegenwart trauern und sich nach unserer Macht zurücksehnen."

Marathon wird zum Mythos, der fast über die gesamte Antike reicht und auch heute sinnstiftend für die griechische Geschichte wirkt. Im 19. Jahrhundert wird er wiedererweckt, als sich die Griechen gegen die türkische Herrschaft auflehnen und Historiker Marathon zum Beginn westlicher Überlegenheit gegenüber dem Orient verklären. Und auch der Marathon-Läufer, der nach Athen gerannt sein soll, um den Sieg zu verkünden, kommt zu Ehren - als Disziplin bei den Olympischen Spielen der Neuzeit. Dass der Läufer eine Erfindung späterer Generationen ist, stört dabei nicht - man nimmt es eh nicht so genau. Als 1908 bei den Spielen in London die Entfernung festlegt wird, wählt man nicht die antike Distanz Athen-Marathon, sondern die von Schloss Windsor zur königlichen Loge im Olympiastadion.