Mythencrash und High-Tech-Trash

Von Jörn Florian Fuchs |
Den Sinn sucht man oft vergebens in der Münchner Oper "Babylon". Auf der Bühne wird mit Effekten gespielt: Videos, Feuer und Wasser. Überzeugend jedoch Sänger und Musiker - das Publikum hat das Stück freundlich aufgenommen.
Tatort: Nationaltheater. Tatzeit: Samstagabend gegen Sieben. Tatbeteiligte: Jörg Widmann, renommierter Komponist Ende Dreißig sowie Peter Sloterdijk, berüchtigter Philosoph Mitte Sechzig. Entstandener Schaden: nun ja, unwiederbringlich vergangene Lebenszeit, strapazierte Hörnerven, Augenprobleme.

Letztere sind Carlus Padrissas überkandidelter High-Tech-Inszenierung geschuldet. Padrissa ist Mitglied der einst revolutionären katalanischen Theatertruppe La Fura dels Baus, die mittelweile nicht nur in der Mitte der Opernwelt angekommen ist, sondern auch noch so manchen Nachahmer gefunden hat. Zu den Fura-Markenzeichen gehören herum turnende Menschenmassen, Breitwandvideos, Feuer und Wasser auf der Bühne, kurz: alles, was irgendwie Effekt macht. Auf den Sinn kommt es meist eher sekundär an.

Bei der Münchner Musiktheaterkreation "Babylon" ist selbiger ohnehin nur - wenn überhaupt - zwischen den Zeilen des Librettos erkennbar. Ein Skorpionmensch klagt am Anfang herzergreifend über dieses und jenes, am Ende wird er sich selbst stechen und zersplittert hernach in unzählige Kopien. Gott oder die Götter sind ihm und auch allen anderen da bereits abhanden gekommen, Orientierung entsteht durch Einführung der Sieben-Tage-Woche.

Vorher gab es einen Opferkult, die babylonische Priesterin Innana verdrehte dem jüdischen Exilanten Tammu den Schädel und musste ihn aufgrund eines dummen Zwischenfalls sogar aus der Unterwelt zurück holen, wo der Tod nach ausführlichem, gequetschtem Singsang schließlich klein bei gab. Auch trat Fluss Euphrat höchstpersönlich und singend über die Ufer - übel gelaunt, weil er dann doch zu viel zerstören musste. Gabriele Schnaut legte hier einen wirklich großen Auftritt hin.

Unvergesslich bleiben auch die Prophezeiungen Ezechiels, die der Schauspieler August Zirner prägnant rezitierte. Und, bitte, wer kann wohl jemals die sieben Vulven und sieben Phalloi vergessen, Plastikmodelle freilich, um die herum sich auch einiges drehte. Verschweigen wollen wir schlussendlich nicht eine Figur namens Seele, die mit Tammu irgendwie zusammen hing.

Zugegeben, wenn man Peter Sloterdijks Libretto ausführlich studiert und sich in Mythologie und einigen angrenzenden Bereichen gut auskennt, dann kennt man sich auch bei dieser Uraufführung aus. Ansonsten bleibt man verloren im nie versiegenden Musikstrom Widmanns und dem Bilderregen der Fura. Während Sloterdijks mäanderndes Textungetüm zwischen hoh(l)em Pathos und Trivialkitsch hin und her schwankt, ackern sich die wackeren Bühnenarbeiter munter durch wirre, irre Welten.

Eine riesige Computertastatur wird in ihre Einzelteile zerlegt und neu zusammen gesetzt. Die Charaktere sind in Fura üblicher Techno-Couture gewandet, sie müssen manchmal durch die Luft schweben, es gibt sogar ein etwas wackliges Babel-Raumschiff. Die Sintflut besteht aus Videowellen und blauem Glitzerkram vom Bühnenhimmel und nicht nur hier darf man den Ausführenden immerhin eine Prise Humor attestieren. Auch ein virtuos choreographiertes Chaosballett kommt zum Einsatz, aber leider auch jede Menge aufgeblähter Ideenschrott.

Der heterogenen Vorlage entsprechend, lieferte Jörg Widmann einen wahrhaft babylonischen Mix aus verschiedensten Stilen und Idiomen und zahlreichen Zitaten ab. Vom Puccini-Rausch geht es stracks zu wunderbar feinsinnigen Kantilenen, Karnevalsmusik samt bayerischer Bläsercombo wechselt mit schroffen Blechorgien, dazu kommt viel Kratzen, Knacken und Atmen. Manch Wiederholungszeichen in der Partitur hätte sich Widmann sicher sparen können, insgesamt hält einen die oft sehr laute Musik jedoch bei Laune.

Das Schönste an dem dreieinhalbstündigen Abend war allerdings Anna Prohaska als sehr leicht bekleidete Priesterin Inanna. Was dieses zarte Wesen so alles ihrer Kehle entlockt, ist schlicht phänomenal. Mühelos gelingen ihr die kompliziertesten Koloraturen. Mit leichten Abstrichen überzeugten auch Claron McFadden als Seele und Jussi Myllys als Tammu. Exzellent Willard White in der Doppelrolle Priesterkönig/Tod. Sören Eckhoff sorgte für bestens präparierte Chöre und Kent Nagano brachte das Bayerische Staatsorchester in perfekte Form.

Wieder einmal siegt in München also die Musik über den Rest, das Publikum reagierte insgesamt recht freundlich, Peter Sloterdijk bekam als Einziger vehemente Buhs ab.
Mehr zum Thema