Mythen des Blutes

Von Richard Schroetter · 18.01.2006
Die Mythen des Blutes sind so alt wie die Menschheit. Es steht für den Tod, aber auch für das Leben. Vielfach wurde Blut auch als das göttliche Element der Menschen betrachtet. Für die Kulturwissenschaften sind die Mythen des Blutes ein weites Feld.
In Dan Browns Weltbestseller "The Da Vinci Code", dessen Auflage innerhalb eines Jahres acht Millionen erzielte, dreht sich alles um ein von der katholischen Kirche mit aller Macht bekämpftes Tabu: Jesus Christus habe von Maria Magdalena Nachkommen gehabt. Sein göttliches Blut habe er über mehrere Generationen noch weitergegeben. Ein letzter Spross dieser Linie sei der Merowingerkönig Dagobert gewesen, der im frühen Mittelalter (679) heimtückisch in Irland ermordet wurde. Auch die Gralsgeschichte oder Richard Wagners Parsifal stehen im Banne des Blutes Jesu Christi. Solche Mythen haben, wie die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun meint, gerade in letzter Zeit eine erstaunliche Konjunktur.

"Also mir ist aufgefallen, dass in den letzten 20 Jahren vielleicht ein ganzer Haufen von Romanen, Krimis vor allen, erschienen sind, in denen Religiosität eine Rolle spielt. Es geht sehr oft um Zeitreisen in die Geburtszeit von Jesus von Nazareth, es geht um die Möglichkeit zu beweisen, dass der Vatikan große Verbrechen begangen hat, welche Fälschungen vorgenommen... Diese Art von Krimis haben einen unheimlichen Zulauf und werden auch sehr intensiv recherchiert, oft mit sehr guten Informationen über die Art, wie Kirchengeschichte zu lesen ist. Einerseits hat mich also interessiert, was steckt dahinter, hinter einem solchen Phänomen, weshalb kribbelt es so in den Fingern, diese Romane, die sich fast immer auf die christliche Religionsgeschichte und nicht etwa jüdische oder islamische beziehen. Was ist im Christentum drin, dass diese Art von Begierde weckt. Das war der eine Aspekt.

Ein anderer Aspekt ist, dass diese Romane sehr oft versuchen zu beschreiben, dass um die ganze Figur von Jesus von Nazareth herum eine Geschichte verschwiegen wurde, beziehungsweise, die Tatsache verschwiegen wird, dass er Nachfolger hatte, dass er erstens der König der Juden war, und dass er nicht nur eine persiflierende ironische Auslegung dieser historischen Gestalt war, sondern er tatsächlich den Anspruch auf den Thron hatte. Zweitens, dass er auch Nachkommen hinterlassen hat, und in vielen dieser Krimis geht es darum, diese genealogische Kette nachzuvollziehen, zu erfahren, wer könnten heute die Nachkommen sein. Und Dan Brown ist einer von vielen Romanen. Er hat die Thematik aufgegriffen."

Die Mythen des Blutes sind so alt wie die Menschheit. Die elementare Erfahrung, dass durch Blutverlust die Kräfte schwinden, dass der gewaltsam Getötete sein Blut verliert und damit sein Leben, führte zu dem Umkehrschluss, das Leben ließe sich durch frische Blutzufuhr verlängern und stärken.

Blut gilt bei vielen Völkern als der Sitz der Seele und des Lebens. Nach altmesopotamischer Überlieferung ist es das göttliche Element der Menschen, da diese aus dem Blut erschlagener, geopferter Götter erschaffen wurden. Das im ägyptischen Totenbuch als "Blut der Isis" bezeichnete, aus einem roten Halbedelstein bestehende Amulett mag ursprünglich bestimmt gewesen sein, dem Toten sein Blut wiederzugeben. Um den Toten beziehungsweise ihren Schatten Lebenskraft zuzuführen, ließen die Griechen Blut in die Gräber tropfen.

Im Koran heißt es, Allah habe den Menschen aus einem Blutklümpchen geschaffen. Mit einem Tröpfchen Blut unterschreibt Faust den Teufelspakt. Denn "Blut ist", so Mephisto, "ein ganz besonderer Saft".

Christina von Braun: "Offenbar ist es der Saft, der am stärksten an die Emotionen rührt. Man kann sich fragen, ob die Religionen deshalb das Blut derart ins Zentrum ihrer Riten gestellt haben, oder ob andersherum, weil die Religionen das Blut ins Zentrum der Riten gestellt haben, ist das Blut so wirkungsmächtig und magisch aufgeladen worden... Unbestreitbar ist, dass es keinen anderen Saft gibt, der derartig an die Emotionen rührt, der derartig auch politische Emotionen hervorzubringen vermag, nicht nur religiöse Gefühle, sondern auch politische Gefühle."

Blut spielt in den verschiedenen Kulturen einerseits eine große Rolle, meint Christoph Wulf, Leiter des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie an der FU:

"Und dann wieder gibt es große Unterschiede in der Deutung des Blutes. Sie können das einmal festmachen, an der Rolle des Bluts im Judentum. Es ist verboten, blutiges Fleisch zu essen. Blut ist der Sitz der Seele, und deswegen muss das Fleisch entblutet werden, geschächtet werden, das Tier, bevor man es essen darf."

Im Alten Testament heißt es:

"Allein achte darauf, dass du Blut nicht isst; denn das Blut ist Leben; darum sollst du nicht zugleich mit dem Fleisch Leben essen..."

Christoph Wulf: "Das ist wiederum im Christentum ganz anders. Da kriegt das Blut eine ganz neue Bedeutung, etwa in der Eucharistie. Der Wein wird zum Symbol des Blutes Christi und des Lebens. Und es ist diese doppelte Bedeutung im Christentum. Das macht wahrscheinlich das Faszinosum aus. Einerseits ist das Vergießen des Blutes gebunden an den Tod, andererseits ist es das Versprechen auf ein ewiges Leben, auf eine Auferstehung vom Leiden und Tode. Und diese eigenartige Mischung macht die Faszination aus. Das ist sicherlich ein Paradoxon, das es möglich macht, dass sich das Christentum so hat verbreiten können."

Bei den Katholiken wird das Blutopfer durch eine symbolische Handlung ersetzt. Doch als könnten die Gläubigen nicht ganz auf die rote Flüssigkeit verzichten, geschehen immer wieder Blutwunder, fangen Madonnenstatuen und Heiligenbilder zu bluten an - bis heute. Berühmt und heute eine Touristenattraktion ist das Wunder von San Gennaro, das am 19. September in Neapel mit viel Musik und einer großen Prozession gefeiert wird.

An diesem Tag wird das in Phiolen aufbewahrte Blut des heiligen Januarius, einem Opfer der Christenverfolgungen, flüssig. Die heilige Reliquie wird in Anwesenheit mehrerer Geistlicher, den Vertretern des Adels und des Municipio, deren Anwesenheit von höchster Bedeutung ist, mit Hilfe der in ihren Händen befindlichen Schlüssel aus dem Aufbewahrungsort, geholt.

Christoph Wulf: "Wieso fasziniert uns das Blut so? Warum beschäftigt man sich in der Literatur, in den Mythen immer mit dem Blut? Und man kann es wohl nur so erklären, dass es ähnlich ist wie bei der Seele. Die Seele kann man kaum sehen, oder gar nicht sehen. Das Blut ist greifbar, und gleichzeitig ist es Ausdruck für ganz Vieles. Wenn wir von Blut reden, reden wir vom Leben, von der Seele, von sozialen Verhältnissen, von der Liebe. Es ist ein großer Mythos und es ist ein Bild. Das hängt mit dem imaginären Charakter des Blutes zusammen."

Der imaginäre Charakter des Blutes. Wo moderne Mediziner sich an der Sauerstoffanalyse, an Stoffwechsel, Hormonen, an Elektrolythaushalt, Thermoregulation, an den ph-Werte-Tabellen des Blutes abarbeiten, da inventarisieren Kulturwissenschaftler und Anthropologen kollektive Vorstellungen, Mythen und Bilder mit hohem interpretatorischen Aufwand. Es geht auch darum, wie es der Analytiker Carl Gustav Jung formulierte, den Anschluss an die Ursprünge zu finden. Das überaus Komplizierte am Blut ist allerdings, dass es unendlich viele Auslegungen gibt, die sich in zwei Punkten überschneiden.

Christina von Braun: "Das Blut, während es vergossen wird, ist warm, wenige Minuten nachdem es vergossen ist, ist es ein Symbol des Todes. Also das vergossene Blut, das verkrustet, hart wird, schwarz wird, ist ein Symbol des Todes, aber in dem Moment, wo es fließt, ist es ein Symbol für Leben... Und diese doppelte Symbolik ist eben außerordentlich wichtig, das es einerseits Verletzung, Tod, Aus-dem-Leben-Scheiden bedeutet, und Lebendigkeit, das pulsierende Leben."

Von exklusiver Bedeutung, so Christina von Braun, ist auch das Menstruationsblut.

Christina von Braun:" Vor allen Dingen in prämonotheistischen Religionen ist das Blut ein Symbol für Fruchtbarkeit, weil der Körper Menstruationsblut ausscheidet. In der jüdischen Religion ist der Geschlechtsverkehr verboten während der Menstruation und eine gewisse Zeit nach der Geburt eines Kindes. Also ist es dem Mann verwehrt mit dem weiblichen Blut in Berührung zu kommen. Ein solches Gebot kannte das Christentum nicht, aber es hat immer wieder Epochen gegeben, in denen menstruierende Frauen Kirchen nicht betreten durften, in dem das Menstruationsblut als ein giftiges Blut beschrieben wurde, als ein gefährliches. Da haben sich im Aberglauben der christlichen Lehre sehr viele negative Besetzungen des weiblichen Blutes gehalten oder sind geschaffen worden.

Insofern gibt es eine Geschlechterkodierung des Blutes. Und wenn Sie außerdem bedenken, dass eine geschlechtliche Übertragung einer Krankheit wie die Syphilis als Krankheit des bösen Blutes bezeichnet wurde, dann sehen Sie, was für eine Metaphorik da hineingelegt wurde, des Sinnlichen, des Physiologischen, des Sexuellen, alles, was mit dem Leib zusammenhängt, was ja mit dieser Metapher des bösen Blutes und damit des weiblichen Blutes einhergeht."

Die Einteilung in männliches und weibliches, in gutes und in böses Blut, diente auch zur Codierung der Macht.

Christoph Wulf: "Blut spielt natürlich für die Hierarchisierung der Gesellschaft eine Rolle, vor allem für Inklusion und Exklusion. Wer gehört zu mir, und wer gehört nicht zu mir? Denken Sie an Weihnachten. Die Frage, wer gehört zur Familie, wer gehört nicht zur Familie? Und sofort kommt die Frage der Blutsverwandtschaft auf, in modernen Gesellschaft ins Spiel. Und es gibt da auch die Abgrenzungen, die erfolgen, wenn man nicht zu einer Ethnie gehört. Man weiß, dass Heiraten verbinden, aber auch, dass man verstoßen wird, dass die Blutsverbindung in vielen Kulturen als tiefer gilt. Das ist in modernen Gesellschaften erhalten geblieben, etwa im Erbrecht, ganz deutlich ist da der genealogische Verwandtschafts-, der blutsverwandtschaftliche Faktor da der bestimmende. In anderen Fragen ist die Macht des Blutes kontrolliert worden, durch Gesetz und Menschenrechte."

Das Abstammungsprinzip, das "ius sanguinis", das Recht des Blutes, prägte über Jahrtausende das Bild der Gesellschaft. In der Illias sagt Zeus vor der Geburt des Herakles, dieser werde der erste sein "vom Geschlecht der Männer, die aus meinem Blut sind". Und an anderer Stelle wird unmissverständlich erklärt, dass nur diejenigen Geschwister über Anspruchsrechte verfügen, "die das gleiche Blut des Vaters haben".

"Also der Begriff der Blutsverwandtschaft baut eigentlich darauf auf, also man sagt auch das eigene Fleisch und Blut, dass durch die Zeugung ein Kind oder ein Embryo geschaffen wird, der eigentlich die biogenetische Substanz seiner Eltern in sich hat,"

sagt die Göttinger Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin:

"Blut hat nicht nur mit Zeugung und Verwandtschaft zu tun, sondern diese Idee von Blutverwandtschaft dient dazu, um Gruppen von einander abzutrennen. Es ist eine Naturalisierung von Gruppenzugehörigkeit. Und aus dem Grund finden wir gerade in geschichteten Gesellschaften, also in Klassengesellschaften, dass die Klassen oder Schichten nach Blut getrennt sind. Das blaue Blut der Adeligen, das rote Blut - das gewöhnliche Blut. Oder man kann Blut verunreinigen. Im Nationalsozialismus hat das eine ganz große Rolle gespielt. Der Rassenbegriff ist ohne die Idee von Blutsverwandtschaft undenkbar. Also es stehen dahinter immer auch soziale und politische Machtstrategien. Oder dass Königshäuser untereinander heiraten, das hat auch den Grund, dass das königliche Blut nicht verwässert werden darf oder verdünnt durch bürgerliches Blut und gleichzeitig geht es auch darum, Besitz und Macht zusammenzuhalten."

Königliches Blut bestimmte über viele Jahrhunderte die europäische Geschichte. Durch Heiraten und Erbschaften formierte sich bis ins 19 Jahrhundert die Physiognomie Europas. Oft wurden auch Krankheiten vererbt. Die Queen Victoria hatte drei Bluter-Söhne. Leopold, ihr jüngster nahm sich die Prinzessin von Waaldeck-Pyrmont zur Frau und bekam von ihr, so hat die Journalistin Annette Scharnberg recherchiert, einen gesunden Sohn und eine Tochter, die später einen hämophilen Sohn gebar. Leopold starb mit 31 Jahren an einer Gehirnblutung. Fünf Jahre später gebar seine jüngere Schwester Beatrice ihren zweiten Sohn, den sie im Andenken an ihren Bruder Leopold nannte. Auch er litt an Hämophilie. Seinen jüngeren Bruder Maurice traf es ebenfalls. Beatrice' Tochter, Victoria Eugenia, brachte die Bluterkrankheit nach Spanien, als sie König Alfonso heiratete und ihm drei hämophile Söhne gebar. Auch Victorias Urenkel, Zarewitsch Alexis, erbte das defekte Gen.

Die ausgebluteten Herrscherhäuser schwankten deswegen immer wieder zwischen Ahnenpass und frischem Blut. Berühmt geworden ist der englische König Edward VIII., der, um die Bürgerliche Wallis Simpson heiraten zu können, dem Thron entsagte und den Namen Herzog von Windsor annahm. Dass die eigene Königsfamilie seiner amerikanischen Frau den Titel "Hoheit" verwehrte, verletzte diesen exzentrischen Vertreter des blauen Blutes erstaunlicherweise mehr als die Abtretung des Königsamts.

Lange führte das Blut in der kulturanthropologischen Forschung ein Schattendasein. Für die symbolische Dimension des Blutes fühlten sich vor allem die Theologen und Religionswissenschaftler, für das Blut als Substanz des flüssigen Organs die Mediziner zuständig. Doch inzwischen hat sich das wissenschaftliche Interesse Richtung Stoffgeschichte und Bildersprache verschoben. Besonders von der Erforschung der Riten verspricht man sich neue Erkenntnisse.

Christoph Wulf: "Also man kann sicherlich sagen, dass es eine Wiederentdeckung der Riten gibt. Natürlich hat es Riten immer gegeben. Man hat nur nicht ihre Bedeutung erkannt. Wir haben in der Nachfolge einer Ritualkritik, in der Nachfolge des Faschismus immer gedacht, dass die Emanzipation des Individuums die Freisetzung von den Ritualen ist. Das ist aber ein großer Irrtum. Wir wären gar nicht lebensfähig, wir hätten kein Soziales, keine Gemeinschaft, wenn es nicht Rituale gibt. In diesem Zusammenhang spielt natürlich auch der Umgang mit Riten des Blutvergießens oder auch der Sakralisierung durch Blut, wie es Hermann Nitsch in der Kunst versucht, eine Rolle. Man kann generell wohl sagen, wir haben eine Zunahme des Abstrakten, des Abstraktwerden des Lebens und auch der Verbildlichung des Lebens. Also man könnte meinen, dass dieses neue Interesse an Blut etwas damit zu tun hat, dass man wieder eine andere Form der Gewissheit sucht, da wo es wirklich um existenzielle Fragen geht, um Leben und Tod. Und in dem Sinne kann dieses Interesse eins sein, was gegenwärtig wieder gewinnt, zumal man begriffen hat, dass Individualität nur durch Sozialität erzeugt wird und dass es ein individuelles Leben ohne Gemeinschaft und Sozietät nicht gibt."

Davon gehen auch inzwischen viele Gegenwartskünstler aus, die Rituale, mal als Zitat, mal als Performance einsetzen. Ein Klassiker ist der erwähnte Wiener Aktionskünstler Hermann Nitsch, bekannt für seine "Abreaktionsspiele". Aufsehen erregte Nitsch mit seinem Orgien-Mysterien-Theater, einem Sechs-Tage-Spektakel, das 1998 im niederösterreichischen Prinzendorf erstmals vollständig aufgeführt wurde. Kreuzigungen, Tierschlachtungen- und Ausweidungen sind ein Teil der archaischen Rituale genau wie das Ausgießen warmen Blutes über nackte Körper. Das Wiederaufnahmeverfahren verpönter Rituale soll, so Nitsch, bei den Beteiligten und den Zuschauern einen "absoluten Daseinsjubel" hervorrufen. Ihn interessiere vor allem…

"...das Substanzsinnliche und dann das Symbolische. Also : Gedärm, Blut und Fleisch, nicht deshalb weil es an die alten Opferkulte erinnert, weil sie mit unserer Anatomie zu tun haben, nein, weil diese Substanzen sinnlich extrem auf uns wirken - das ist der Ausgangspunkt."

Das Geschehen, die Performance steht für Nitsch allein im Mittelpunkt. Ein solches Ritual lässt sich technisch nicht reproduzieren :

"Das muss man erleben. Es gibt Dokumentationsmöglichkeiten, aber diese Dokumentationsmöglichkeiten hinken der Wirklichkeit nach. Das Entscheidende ist, dass man das erlebt. Ein Beispiel: jeden Tag Wildwestfilm, Kriminalfilme, da werden die Menschen nur so umgebracht, der Revolver, das Maschinengewehr ist die große Sache. Das soll gar nicht sozialkritisch sein, was ich jetzt sag, oder diese Penetranz dessen haben. Die Leute sitzen da und schauen zu, und da werdens erschossen. Blut spritzt auf furchtbare Art, und zum Schluss die Bösen werden dann immer von schweren Betonblöcken erschlagen. Dauernd Aggression, Mord, Totschlag. Da muss doch was in den Menschen drin sein, dass sie das wollen. Ich seh das so: das sind alles verdrängte Energien, die Leben suchen, aber nichts finden übers Fernsehen. Es ist ein Wiederholungszwang, und da möchte ich, dass wenn von Tod die Rede ist, anders von Tod die Rede ist, intensiver, sinnlicher, wahrhaftiger, nicht geschönt."

Die Riten, die Hermann Nitsch aufwändig und mit viel Geld reinszeniert, erscheinen im Vergleich zu den Kulten, die vor allem in einigen Ländern der Dritten Welt noch praktiziert werden, wie ein Surrogat. So wird in Nepal einmal im Jahr im Oktober ein großes Schlachtfest zelebriert, das ganz verschiedene Funktionen erfüllt, wie der Heidelberger Ritenexperte und Anthropologe Axel Michaels zu berichten weiß:

"Es ist sehr blutig, also an dem Ort, wo ich es überhaupt beobachtet habe, in Bagdapur, aber überhaupt im Katmandutal in Nepal, denn da opfert praktisch jede Familie ein Tier, manchmal sogar mehrere Tiere, vorwiegend Ziegen aber auch Wasserbüffel. Das geschieht öffentlich, in den Straßen, so dass dort sehr viel Blut fließt, und mit dem Blut werden nicht nur die Schreine der Göttinnen und der Götter gesegnet, sondern auch alles, was für den Lebensunterhalt an Geräten gewissermaßen wichtig ist, also zum Beispiel Autos, Lastwagen, technische Geräte jeder Art. Es wird bespritzt. Die Tiere werden geschächtet.

Zum einen wird Blut für Leben gegeben. Die Göttin fordert dieses Blut, damit sie die Menschen beschützt. Es hat darin durchaus einen Sündenbockcharakter, also wird auch Blutschutz gegeben, und es wird auch Blut für Bündnisse gegeben, dadurch dass das Fleisch gemeinsam verteilt wird, findet auch jeweils eine Bekräftigung und Bestätigung der sozialen Familie, des Clans oder jener religiösen Gemeinschaften statt."

Dem westlichen Beobachter erscheint diese Zeremonie auf den ersten Blick äußerst barbarisch.

Axel Michel: "Natürlich ist es, wenn man es zum ersten Mal sieht, schon etwas befremdlich, weil man Tiertötungen nicht leicht sieht, wenn man im Westen lebt. Aber dadurch, dass die Menschen auch nicht so viel Fleisch essen wie im Westen, ist ja der Genuss des Fleisches eine Konsequenz der Tötung dieser Tiere, was noch zusätzlich dazu kommt, dass die Tiere einen religiösen Bezug haben, die im Grunde genommen als Gegengabe der Göttin an die Menschen angesehen werden, und das hat für mich, wenn ich es so sagen darf, in Anführungszeichen, humanere Züge als das kalte Abtöten in anonymen Schlachthäusern."

Ob das Blut rituell eingesetzt wird, oder ob es als Symbol oder Zeichen für etwas anderes steht. Das Blut besitzt eine moderne Eigenschaft, es kommuniziert und überspringt die kanonisierten Fachgrenzen der Forschung.

Christina von Braun: "Das interessiert im Moment ungeheuerlich, wie können Symbole eine solche Macht gewinnen, und wie gerade bei einem Stoff, der andererseits auch etwas Reales repräsentiert. Zweitens ist das Thema Blut auch so interessant, weil es sich interdisziplinär angehen lässt. Man erkennt auf einmal plötzlich, was Kino mit Ethnologie in Afrika zu tun hat, was Religionsgeschichte mit Tinte zu tun hat. Diese ganzen Querverbindungen, die so viele Disziplinen, Denkweisen einander ins Gespräch bringen, lassen sich vermutlich nirgendwo so gut vernetzen wie über das Thema Blut, das einerseits signifikant und andererseits Signifikat ist."

In der modernen Medien- und Informationsgesellschaft spielt das Blut eine doppelte Rolle. Es ist massenwirksam, weil es sofort die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, und es scheint die Echtheit von Geschehnissen zu verbürgen, auch wo oft nur Theaterblut fließt.

Christina von Braun: "Also im Kino befinden Sie sich ja, sie müssen nicht nur an etwas glauben, sie befinden sich in einem imaginären Raum, sie sind umgeben von einem akustischen Environment, sie imaginieren sich durch ihre Augen und ihr Gehör in einen anderen Raum, in eine andere Zeit, in eine andere Person hinein. Sie machen einen enormen Transfer. Und um diesen Transfer, sozusagen die imaginäre Ebene wegzunehmen, als einen realen Ort meines jetzigen Aufenthaltes im verdunkelten Zuschauerraum zu geben, spielt das Blut eine ganz große Rolle. Das Blut wird herangezogen, um diesen ganzen Imaginationen den Anschein von Realitätsmacht zu geben, vom Existenziellen, das mit Leben und Tod einhergeht. Das geschieht mehr oder weniger gut, das ist eine andere Frage, aber der Sinn von dem vielen Blut im modernen Kino ist, vergessen zu machen, dass ich mich in einem Simulationsraum befinde."

Dass die Simulationsmaschine Kino oder das Fernsehen ohne Blut nicht auskommen können, das jedenfalls ist für den Mannheimer Germanisten und Medienexperten Jochen Hörisch ebenso selbstverständlich wie die schlichte Tatsache, dass dafür Geld bezahlt werden muss. Geld und Blut, so Hörisch, besitzen sehr ähnliche Strukturen.

Jochen Hörisch: "Man kann das ganz unterschiedlich, ich sag es mal so neudeutsch, anmoderieren. Wir gucken uns irgendwelche Bilder an, wo Jesus sein Blut vergießt, und daneben steht dann einer, der Judas heißt und 30 Silberlinge hat. Nicht Geld oder Leben, sondern Blut oder Geld ist da die Alternative. Wir können das aber auch naturwissenschaftlich anmoderieren, dann haben wir eben 1628, Harvey, der den Blutkreislauf entdeckt und der befreundet sich mit Hobbes. Und Hobbes schreibt seine berühmt-berüchtigte Schrift Leviathan, 1651, also in einer Zeit, ...wo wegen Bluten und Hostien und Abendmahl, wegen konfessionellen Streitigkeiten 30 Jahre lang Blut geflossen ist, 1651, drei Jahre nach Beendigung des Krieges. Und Harvey ist befreundet mit Hobbes und der sagt, der Geldkreis ist das für den Staat und für den großen Menschen, für die Körperschaft, was der Blutkreislauf für den einzelnen Körper ist. Und seitdem haben wir diese unglaublich mächtige Metapher, die mehr als eine Metapher ist. Vom Wirtschaftskreislauf, vom Geldkreislauf, von der Zirkulation.

Wir alle wissen: Blut ist warm. Geld ist eiskalt. Geld kann sich vermehren, wir können allerdings zur Ader gelassen werden. Geld muss sich vermehren, muss Zinsen abwerfen, damit es weiter funktioniert. Geld ist etwas, was man austauschen kann. Da kann man die Metapher auch in den Blutbereich übertragen. Man kann Blut spenden und einem anderen geben. In der Regel mache ich es nicht für Geld, aus edlen Motiven.

Insofern leuchtet sofort ein, dass das Geld die Dramen schafft, die es löst. Denn noch einmal: In der Regel sind wir nicht bereit, für Geld zu sterben. Wir wollen für Geld leben, wir merken aber heute, Stichwort religiöser Fundamentalismus, wie viele Leute wieder bereit sind, ihr Blut zu opfern für den wahren Namen Gottes. Ihr liebt das Leben, ihr, die ihr euch auf westlichen Kapitalismus und Säkularisierung eingelassen habt, sagen die islamischen Fundamentalisten, wir lieben den Tod und opfern dafür unser Blut."

Es gibt noch einen anderen Aspekt, den der Medientheoretiker Hörisch mit leuchtenden Augen betont:

"Das klingt wiederum metaphorisch, jetzt mein ich etwas ganz Konkretes. Wir haben ja das erste große Massenmedium im Rahmen unserer Kultur, das ist das Abendmahl. Und im Abendmahl nehmen wir Christi Leib und Blut zu uns. Einige werden vielleicht den Kopf schütteln, was hat das denn mit Medien zu tun. Meine Antwort wäre: alles. Denn was sind Medien? Medien sind Unwahrscheinlichkeitsverstärker, sagt Luhmann. Es ist unwahrscheinlich, dass es einen Gott gibt, dass er einen Sohn hat, der sich für uns geopfert hat. Und diese Unwahrscheinlichkeit wird am laufenden Band neu bestätigt im Abendmahlritus. Medien sind Absenzüberbrücker. Also ich bin jetzt hier anwesend, wenn unsere Hörer uns hören, aber dank Radio, und dank des Aufnahmegerätes bin ich als Abwesender anwesend. Der abwesende Christus ist in Brot und Wein anwesend. Das Abendmahl ist ein Massenmedium. Kommunion - Kommunikation. Man muss dran teilnehmen."

Mythen des Blutes. Wohin führen sie, ja treiben sie uns? Die modernen Kulturwissenschaften versuchen erst gar nicht eine Antwort zu finden. Sie beschreiben lieber gewissenhaft und oft unter enormem Fantasie-Aufwand die in den verschiedenen Kultur- und Lebensbereichen auftretenden Varianten. Dabei ist jedoch vage eine generelle Tendenz festzustellen: eine schleichende Verabschiedung von der diskursiven Vorherrschaft der Sprache und des Textes als Leitmedium zugunsten bildlicher, filmischer, deutlich emotionalerer Erzählverfahren. Eine stille Verschwörung vielleicht der mythischen Bilder gegen die Allmacht des dem abstrakten Denken verpflichteten Wortes.