Mystische Liebesgeschichten

Rezensiert von Jörg Plath · 08.06.2006
Der Liebe sind die Menschen in den beiden Geschichten "Klara Milič" und "Das Lied der triumphierenden Liebe (MDXLII)" von Ivan Turgenev nicht gewachsen. Der Schweizer Verlag Dörlemann hat sie neu aus dem Russischen übersetzen lassen. Der Tod spielt eine wichtige Rolle in diesen Novellen aus den letzten Jahren des großen Realisten.
Mit den sofort nach dem Erscheinen 1852 verbotenen Erzählungen "Aufzeichnungen eines Jägers" wird Ivan Turgenev bekannt, und bis zuletzt schreibt er, der heute vor allem durch seinen Roman "Väter und Söhne" bekannt ist, Geschichten. Als 1881 "Das Lied der triumphierenden Liebe (MDXLII)" entsteht, ist er bereits schwer krank, und die Novelle "Klara Milič" gehört zu den letzten Werken, die er vor seinem Tod 1883 verfasst.

Beide Erzählungen hat der Schweizer Verlag Dörlemann neu von Dorothea Trottenberg in ein flüssiges, dabei angemessen bedächtiges Deutsch übersetzen lassen und präsentiert in dem kleinen, innen hübsch, außen rustikal gestalteten Band einen Turgenev, der ungemein spannend von Liebenden und ihren gespenstischen Erlebnissen erzählt.

Die Ereignisse in "Das Lied der triumphierenden Liebe (MDXLII)" sind in das Ferrara des 16. Jahrhunderts verlegt, wo der düstere Adelssohn Muzio seinem nahen Verwandten und besten Freund Fabio beim Werben um die Gunst Valerias unterliegt und enttäuscht auf Reisen geht.

Als Muzio nach vier Jahren zurückkehrt, wird er vom glücklichen aber noch immer kinderlosen Paar mit offenen Armen aufgenommen. In den nächsten Tagen träumt Valeria von quälenden Liebkosungen Muzios und verheimlicht das ihrem Mann Fabio. Manchmal ist sie nun nachts verschwunden, bis Fabio einmal seine Gattin im Schlaf aus dem Bett steigen sieht und ihr folgt.

Im Garten sieht er sie auf den ebenfalls schlafwandelnden Muzio zueilen und sticht ihn wutentbrannt nieder. Das Ehepaar findet sein Glück wieder. Doch dann spielt Valeria eines Tages auf der Orgel versehentlich "Das Lied der triumphierenden Liebe", mit dem Muzio sie Monate zuvor verzaubert hatte. Zugleich spürt sie "zum ersten Mal in ihrer Ehe das Regen eines neuen, werdenden Lebens in sich …"

"Klara Milič" handelt von einer verpassten Liebe, an der beide Beteiligten zugrundegehen: Der 25-jährige Jakov Aratov, ein Einsiedler von schwächlicher Gesundheit, der sich in Moskau Privatstudien hingibt, wird von seiner Tante, einer alten Jungfer, versorgt. Einmal gibt er dem Drängen seines einzigen Freundes nach und begleitet ihn in einen Salon, wo eine junge Frau starken Eindruck auf ihn macht.

Er besucht ein Konzert der Schauspielerin und Sängerin, und kurz darauf bittet sie ihn um ein Treffen auf der Straße, nur um nach wenigen Worten enttäuscht über den Ratlosen davonzueilen. Als Aratov Monate später von ihrem Selbstmord erfährt, beginnt er, sich in sie zu verlieben, weil er glaubt, sie habe sich aus enttäuschter Liebe zu ihm umgebracht. Bald meint er, ihre Seele besuche ihn, und stirbt glücklich. "Klara Milič", der ein authentischer Fall zugrunde liegt, ist ein Kommentar Turgenevs zum "coup de foudre", von dem seine Zeit fasziniert ist.

Der Liebe sind die Menschen in diesen Geschichten nicht gewachsen. Ivan Turgenev, der der verehrten Sängerin Pauline Viardot nach Baden-Baden und Paris folgte, erzählt von der Liebe auf romantische Weise, mit Hilfe von Träumen und Geistern. In reizvollem Kontrast dazu steht die Entschlossenheit, mit der er äußerst knapp charakterisiert.

In "Klara Milič" wird die zwielichtige Existenz des Vaters von Aratov auf einer Seite umrissen, um ihn dann knapp und beinahe heiter zu umzubringen: "Ein halb geflüstertes ‚Ah!’ war sein üblicher Ausruf; und mit diesem Ausruf auf den Lippen starb er auch – etwa zwei Jahre, nachdem er sich in Moskau niedergelassen hatte." Das Vergnügen des Lesers beruht zu einem guten Teil darauf, dass der Erzähler sein Reich mit formvollendeten Handstreichen beherrscht.

Modern wirkt die verhinderte Kommunikation zwischen seinen Figuren. In "Das Lied der triumphierenden Liebe (MDXLII)" verschließt Schicklichkeit Valeria den Mund, in "Klara Milič" wissen zwei Einsame nicht, wie sie sich dem anderen mitteilen sollen.

Daher übernehmen magische Praktiken die Regie, daher gibt es in beiden Erzählungen "Schwarzkünstler": Der erdolchte Muzio wird von seinem Diener, einen stummen Malaien, durch Hypnose wieder belebt, und Aratov stellt ein stereoskopisches Abbild der postum Geliebten her, bis sie tatsächlich im Raum zu sein scheint. Der Tod ist der Dreh- und Angelpunkt dieser mystischen Liebesgeschichten aus den letzten Jahren des großen Realisten.

Ivan Turgenev, Klara Milič.
Zwei Novellen.

Aus dem Russischen übersetzt und mit Anmerkungen sowie einem Nachwort versehen von Dorothea Trottenberg.
Dörlemann Verlag. Zürich 2006. 176 S., 17,80 Euro