"Mystik der Klarheit"
Daniel Kehlmann erfüllt mit seinen 31 Jahren nur eines der ursprünglichen Kriterien des 1911 gestifteten Kleist-Preises. Man wollte "aufstrebenden und wenig bemittelten Dichtern deutscher Sprache" Ehrengaben vermitteln. Inzwischen bekommt den Kleist-Preis, wer ihn verdient hat.
Am Anfang seines jüngsten Romans "Die Vermessung der Welt", einer lehrreichen Doppelbiografie über den Weltenforscher Alexander von Humboldt und den Mathematiker Carl Friedrich Gauß, beschreibt Daniel Kehlmann eine Reise von Gauß mit dessen Sohn Eugen nach Berlin.
"Sie erreichten Berlin am Spätnachmittag des nächsten Tages. Tausende kleiner Häuser, ohne Mittelpunkt und Anordnung, eine ausufernde Siedlung an Europas sumpfigster Stelle. Eben erst hatte man angefangen, prunkvolle Gebäude zu errichten, einen Dom, einige Paläste, ein Museum für die Funde von Humboldts großen Expeditionen. In ein paar Jahren, sagte Eugen, werde das hier eine Metropole sein wie Rom, Paris oder Sankt Petersburg. Niemals, sagte Gauß. Widerliche Stadt!"
Ernst Stötzner las aus "Die Vermessung der Welt". Daniel Kehlmann erfüllt mit seinen 31 Jahren nur eines der ursprünglichen Kriterien des 1911 gestifteten Kleist-Preises. Man wollte "aufstrebenden und wenig bemittelten Dichtern deutscher Sprache" Ehrengaben vermitteln. Inzwischen bekommt den Kleist-Preis, wer ihn verdient hat, ungeachtet seiner Finanzen. Laudator Uwe Wittstock hatte als Vertrauensperson der Jury Daniel Kehlmann vorgeschlagen:
"’Die Vermessung der Welt’ erzählt von der Zeit eines geistigen Umbruchs, also von der Konfrontation zweier sich grundlegend widersprechender Weltsichten, und natürlich erkennt man schon deshalb in der Geschichte des Buches zahllose Züge unserer Gegenwart wieder. Kehlmann stilisiert seinen Alexander von Humboldt zu einem zukunftsfrohen Aufklärer, zumindest könnte das Resümee, das er auf dem Berliner Naturforscherkongress von 1828 zieht, optimistischer kaum sein.
Bald schon, so kündigt er an, werde der Kosmos ein begriffener sein, alle Schwierigkeiten menschlichen Anfangs wie Angst, Krieg und Ausbeutung würden in die Vergangenheit sinken, die Wissenschaft werde ein Zeitalter der Wohlfahrt herbeiführen und wer könne wissen, ob sie nicht eines Tages sogar das Problem des Todes lösen werde."
Da leuchtet die Genforschung unserer Tage durch die historische Folie. Überhaupt schreibt Kehlmann auf gutem geistigem Fundament. Uwe Wittstock:
"Wer seine Bücher liest, kann leicht auf die Idee verfallen, dass unser Verstand nicht sonderlich gut passt zu dem, was wir verstehen müssen, und dass die Risse in der Realität uns leicht verschlingen können. Je tiefer Kehlmanns Gauß in die Rätsel der Welt vordringt, desto undurchschaubarer, heilloser, desto grausamer erscheint ihm diese Welt. Lieber der Tod als ein solches Leben, hat der historische Gauß an den Rand eines seiner Manuskripte gekritzelt. Und diese Verzweiflung blieb - um das zum Schluss noch hinzuzufügen – auch Kleist nicht erspart."
Da hat der Laudator doch noch geschickt den Bogen zum Namensgeber des Preises geschlagen. Günter Blamberger, Präsident der Heinrich von Kleist-Gesellschaft, erinnerte in seinem Grußwort an die Geschichte des Preises, der anlässlich des einhundertsten Todestages des Dichters gestiftet wurde:
"1911 wurde eine Kleist-Stiftung gegründet, dem die führenden deutschsprachigen Dichter, Künstler, Politiker und Wirtschaftsbosse angehörten, von Hugo von Hofmannsthal über Walter Rathenau und Max Reinhardt bis zu Arthur Schnitzler und Samuel Fischer. Heute gibt es in Heilbronn ein Kleist-Archiv, in Frankfurt/Oder ein Kleist-Museum, und in Berlin die Heinrich von Kleist-Gesellschaft, allerdings ist der Sitz unserer Gesellschaft in Berlin nur ein juristischer. Ein Büro können wir uns nicht leisten, und können nur auf den neuen Kulturreferenten von Berlin hoffen oder auf die Berliner, dass sie Kleist endlich als den größten Dichter ihrer Stadt entdecken."
Daniel Kehlmann sprach unter dem Titel "Die Sehnsucht, kein Selbst zu sein" über Heinrich von Kleist:
"Gerade das Oszillierende an ihm, das tänzerisch Ausweichende, das zugleich Anziehende und immer wieder Befremdliche, das ihn umso weiter entrückt, je näher man ihm kommt, wird ihn weiterhin – Generation für Generation – zum Zeitgenossen machen. Denn eine Epoche, der Kleist nichts mehr zu sagen hätte, müsste entweder dem unglücklichen Bewusstsein, dem Unbehagen an Entfremdung und Spaltung in die Erleuchtung entwachsen, oder aber zurückgefallen sein in die Barbarei einer nur mehr dem Konsum und der Unterhaltungskunst beantworteten
Stumpfheit, die von Gesetz, Sehnsucht und Erlösung nichts mehr weiß. Die Alternativen sind nicht einfach: Glaube oder Flachheit, Magie oder Entzauberung, Gebet oder Banalität. Kleist erinnert uns: Die Aufklärung ist nicht seicht, die Vernunft nicht ohne Geheimnisse, und es gibt sehr wohl eine Mystik der Klarheit. Die Wahrheit ist, dass ihm auf Erden nicht zu helfen war. Die Wahrheit ist aber auch: ihm nicht und keinem von uns. Von dieser Hoffnungslosigkeit wusste er zu sprechen in Sätzen, so perfekt, in Bildern so vollkommen, dass sie uns heiter stimmen."
Über die Weidendammer Brücke vor dem Theater fuhr eine Straßenbahn. Man las die Werbung für eines der Konsumzentren auf der grünen Wiese vor der Stadt: "Voll gut. Voll spar. Voll da." Helf er sich! Wie schrieb der Namensgeber des Preises, Heinrich von Kleist, in seiner berühmten Erzählung "Über das Marionettentheater"?
"Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müssten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt."
"Sie erreichten Berlin am Spätnachmittag des nächsten Tages. Tausende kleiner Häuser, ohne Mittelpunkt und Anordnung, eine ausufernde Siedlung an Europas sumpfigster Stelle. Eben erst hatte man angefangen, prunkvolle Gebäude zu errichten, einen Dom, einige Paläste, ein Museum für die Funde von Humboldts großen Expeditionen. In ein paar Jahren, sagte Eugen, werde das hier eine Metropole sein wie Rom, Paris oder Sankt Petersburg. Niemals, sagte Gauß. Widerliche Stadt!"
Ernst Stötzner las aus "Die Vermessung der Welt". Daniel Kehlmann erfüllt mit seinen 31 Jahren nur eines der ursprünglichen Kriterien des 1911 gestifteten Kleist-Preises. Man wollte "aufstrebenden und wenig bemittelten Dichtern deutscher Sprache" Ehrengaben vermitteln. Inzwischen bekommt den Kleist-Preis, wer ihn verdient hat, ungeachtet seiner Finanzen. Laudator Uwe Wittstock hatte als Vertrauensperson der Jury Daniel Kehlmann vorgeschlagen:
"’Die Vermessung der Welt’ erzählt von der Zeit eines geistigen Umbruchs, also von der Konfrontation zweier sich grundlegend widersprechender Weltsichten, und natürlich erkennt man schon deshalb in der Geschichte des Buches zahllose Züge unserer Gegenwart wieder. Kehlmann stilisiert seinen Alexander von Humboldt zu einem zukunftsfrohen Aufklärer, zumindest könnte das Resümee, das er auf dem Berliner Naturforscherkongress von 1828 zieht, optimistischer kaum sein.
Bald schon, so kündigt er an, werde der Kosmos ein begriffener sein, alle Schwierigkeiten menschlichen Anfangs wie Angst, Krieg und Ausbeutung würden in die Vergangenheit sinken, die Wissenschaft werde ein Zeitalter der Wohlfahrt herbeiführen und wer könne wissen, ob sie nicht eines Tages sogar das Problem des Todes lösen werde."
Da leuchtet die Genforschung unserer Tage durch die historische Folie. Überhaupt schreibt Kehlmann auf gutem geistigem Fundament. Uwe Wittstock:
"Wer seine Bücher liest, kann leicht auf die Idee verfallen, dass unser Verstand nicht sonderlich gut passt zu dem, was wir verstehen müssen, und dass die Risse in der Realität uns leicht verschlingen können. Je tiefer Kehlmanns Gauß in die Rätsel der Welt vordringt, desto undurchschaubarer, heilloser, desto grausamer erscheint ihm diese Welt. Lieber der Tod als ein solches Leben, hat der historische Gauß an den Rand eines seiner Manuskripte gekritzelt. Und diese Verzweiflung blieb - um das zum Schluss noch hinzuzufügen – auch Kleist nicht erspart."
Da hat der Laudator doch noch geschickt den Bogen zum Namensgeber des Preises geschlagen. Günter Blamberger, Präsident der Heinrich von Kleist-Gesellschaft, erinnerte in seinem Grußwort an die Geschichte des Preises, der anlässlich des einhundertsten Todestages des Dichters gestiftet wurde:
"1911 wurde eine Kleist-Stiftung gegründet, dem die führenden deutschsprachigen Dichter, Künstler, Politiker und Wirtschaftsbosse angehörten, von Hugo von Hofmannsthal über Walter Rathenau und Max Reinhardt bis zu Arthur Schnitzler und Samuel Fischer. Heute gibt es in Heilbronn ein Kleist-Archiv, in Frankfurt/Oder ein Kleist-Museum, und in Berlin die Heinrich von Kleist-Gesellschaft, allerdings ist der Sitz unserer Gesellschaft in Berlin nur ein juristischer. Ein Büro können wir uns nicht leisten, und können nur auf den neuen Kulturreferenten von Berlin hoffen oder auf die Berliner, dass sie Kleist endlich als den größten Dichter ihrer Stadt entdecken."
Daniel Kehlmann sprach unter dem Titel "Die Sehnsucht, kein Selbst zu sein" über Heinrich von Kleist:
"Gerade das Oszillierende an ihm, das tänzerisch Ausweichende, das zugleich Anziehende und immer wieder Befremdliche, das ihn umso weiter entrückt, je näher man ihm kommt, wird ihn weiterhin – Generation für Generation – zum Zeitgenossen machen. Denn eine Epoche, der Kleist nichts mehr zu sagen hätte, müsste entweder dem unglücklichen Bewusstsein, dem Unbehagen an Entfremdung und Spaltung in die Erleuchtung entwachsen, oder aber zurückgefallen sein in die Barbarei einer nur mehr dem Konsum und der Unterhaltungskunst beantworteten
Stumpfheit, die von Gesetz, Sehnsucht und Erlösung nichts mehr weiß. Die Alternativen sind nicht einfach: Glaube oder Flachheit, Magie oder Entzauberung, Gebet oder Banalität. Kleist erinnert uns: Die Aufklärung ist nicht seicht, die Vernunft nicht ohne Geheimnisse, und es gibt sehr wohl eine Mystik der Klarheit. Die Wahrheit ist, dass ihm auf Erden nicht zu helfen war. Die Wahrheit ist aber auch: ihm nicht und keinem von uns. Von dieser Hoffnungslosigkeit wusste er zu sprechen in Sätzen, so perfekt, in Bildern so vollkommen, dass sie uns heiter stimmen."
Über die Weidendammer Brücke vor dem Theater fuhr eine Straßenbahn. Man las die Werbung für eines der Konsumzentren auf der grünen Wiese vor der Stadt: "Voll gut. Voll spar. Voll da." Helf er sich! Wie schrieb der Namensgeber des Preises, Heinrich von Kleist, in seiner berühmten Erzählung "Über das Marionettentheater"?
"Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müssten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt."