Myanmar

Was steckt hinter der Flucht von 430.000 Rohingya?

Angehörige der Rohingya schützen sich in einem Flüchtlingslager in Bangladesch vor Monsun-Regen.
Angehörige der Rohingya schützen sich in einem Flüchtlingslager in Bangladesch vor Monsun-Regen. © AFP / DOMINIQUE FAGET
Von Holger Senzel, Lena Bodewein und Silke Diettrich · 27.09.2017
Seit August verlassen tausende Rohingya Myanmar. Die muslimische Minderheit spricht von brutaler Militär-Gewalt – die UN von "ethnischen Säuberungen". Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi weist das zurück. Die Wahrheit liegt im Rakhine-Staat.
Morgen befasst sich der UN-Sicherheitsrat in New York mit den Rohingya. Die Vorwürfe wiegen schwer: Bis vor kurzem lebten noch etwa eine Million Angehörige dieser muslimischen Minderheit im mehrheitlich buddhistischen 50-Millionen-Einwohner-Land Myanmar, aber etwa 430.000 Rohingya mussten wegen "brutaler Gewalt des Militärs" ins benachbarte Bangladesch fliehen.
De-facto Regierungschefin Aung San Suu Kyi bestreitet die Anschuldigungen.
Myanmars De-Facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi spricht am 19. September 2017 in Myanmars Hauptstadt Naypyitaw über die Lage der Rohingya-Minderheit.
Aung San Suu Kyi bei ihrer Rede in Myanmars Hauptstadt Naypyitaw am 19. September 2017 zur Lage der Rohingya.© picture alliance / Aung Shine Oo
Im Gegenteil: Das burmesische Militär wirft der muslimischen Rebellengruppe ARSA Terror vor und verweist auf ein in dieser Woche gefundenes Massengrab mit insgesamt 45 Toten. Es sollen laut Militär vor allem Hindus sein, die bei einem Überfall von ARSA-Rebellen getötet wurden. Auch Buddhisten flüchten vor der Gewalt.
Alles spielt sich im abgeriegelten Bundesstaat Rakhine ab. Dorthin hat inzwischen auch Bangladesch seine Grenze geschlossen. Die Suche nach der Wahrheit gestaltet sich schwierig und reicht weit zurück in die Geschichte - bis zum britischen Kolonialismus, schildern unsere Korrespondenten, die auch versucht haben, in die betroffene Region zu gelangen.

Ein Kloster als Fluchtunterkunft

Ein buddhistisches Kloster in Sittwe im Unruhestaat Rakhine, etwa hundert Kilometer von dort entfernt, wo muslimische Dörfer brennen. Näher darf das ARD-Team nicht ans Krisengebiet heran.
Der Abt trägt Meditationstexte vor, kleine Novizen spielen Verstecken, über den Hof laufen Hühner und Hunde und viele buddhistische Familien, die ebenfalls vor der Gewalt geflohen sind. Sie wühlen sich durch Kleiderspenden.
Geflüchtete buddhistische Familien - vor allem Frauen wühlen in Sittwe in Kleiderspenden, die auf dem Boden liegen.
Geflüchtete buddhistische Familien in Sittwe suchen in Kleiderspenden.© ARD / Lena Bodewein
Viele haben Angst. Denn der Abt sagt:
"Die Muslime sind aggressiv, sie wollen den ganzen Rakhine-Staat für sich, sie wollen ganz Myanmar besetzen."
Aber wenn die Buddhisten die Muslime fürchten, warum sind dann schon mehr als 400.000 Angehörige der Rohingya, dieser muslimischen Minderheit in Myanmar geflohen? Geflohen vor dem burmesischen Militär, das sie in einer Welle der ethnischen Säuberung aus dem Land treibt?
"Die Muslime inszenieren sich als Opfer, die internationalen Medien stellen alles falsch dar. Unser Militär handelt korrekt."

Kaum Zugang zu Informationen

Was ist die Wahrheit? Das ARD-Team traf bei der Suche nach Antworten recht schnell auf Kafka. Oder auf etwas, was sich Kafka ausgedacht haben könnte: Warten auf Formulare, Unterschriften, Stempel, eine Behörde, noch eine Behörde und der nächste Beamte. Und dann womöglich die Genehmigung ein Lager zu besuchen, in dem tausende Rohingya leben. In Staub, Hitze und in Armut, bitterarm in einem sowieso schon bitterarmen Land.
Dann schmeißt der erste Fahrer hin. Aus Angst, dass wir Aufnahmen machen, auch in der Nähe einer Moschee. Moschee heißt: muslimisch und damit pro-Rohingya, also anti-buddhistisch, also gegen den Großteil der Bevölkerung. So ist das Denken hier. Der zweite Fahrer steuert in Richtung Lager. Doch dann, vor der Schranke: kein Weiterkommen. Angeblich das falsche Formular oder die falsche Unterschrift oder die falsche Behörde. So lässt sich keine Wahrheit suchen.
Also zurück in die kleine Stadt Sittwe. An Straßenständen Menschen befragen: Warum der Konflikt, wer ist schuld, was tun – solange, bis eine Art Nachbarschaftskommissar aufkreuzt:
"Hört lieber auf. Die internationale Presse bevorzugt immer nur die Muslime in der Darstellung des Konfliktes, das empört die lokale Bevölkerung."
Andere Männer treten dazu und sind ganz seiner Meinung; also Sachen packen und weiter. Die Rückfahrt hat an der Vertretung des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes vorbeigeführt. Doch die ist verlassen – alle arbeiten von zuhause, aus Angst, das Ziel von Gewalt zu werden. Denn in einem Lager der Rohingya-Rebellen soll ein Versorgungpäckchen des Roten Kreuzes gefunden worden sein, sofort hieß es: Die unterstützen die Terroristen!

Gefälschte Bilder zur Aufstachelung

Längst ist das ein Konflikt mit manipulierten Wahrheiten geworden, auf beiden Seiten.
Buddhisten behaupten, Rohingya zünden ihre eigenen Dörfer an, Rohingya und ihre Unterstützer posten Bilder der Not und des Elends, doch die Bilder sind alt oder stammen aus ganz anderen Katastrophen aus ganz anderen Weltgegenden.
Das tat auch der türkische Vize-Premierminister. Und weil Präsident Erdogan sich auch noch für die Sache der verfolgten Muslime aussprach, werden die Türken in Myanmar jetzt ganz besonders gehasst. Das bekam auch das ARD-Team in Sittwe zu spüren, wie ein Video auf Facebook zeigt.
Kameramann, Techniker, Korrespondentin und örtliche Übersetzerin werden umringt, belagert, befragt, wer seid ihr, wir haben euch doch schon gesehen heute. Untertitelt ist das Video auf Facebook als: Zwei Türken und eine weiße Frau, die Propagandamaterial für die Rohingya drehen – daran stimmt nichts, außer - die Hautfarbe der ARD-Fernsehkorrespondentin.
Aber die plötzlich ausufernde Situation ist echt: die Menge wird immer größer, die Polizei kommt, bildet einen Korridor, damit das Team das Hotel sicher erreichen kann. Die Menge folgt, wird lauter und größer, Polizei stellt sich vor den Hoteleingang. Auch davon finden sich Videos auf Facebook, gepostet von wütenden Burmesen. Vieltausendfach geteilt, ebenso häufig kommentiert:
"Lasst sie nicht hier rein!, schlagt die Übersetzerin!"
"Tötet sie, wenn sie Türken sind!"
Woher kommt dieser Hass? Warum jetzt diese Gewalt? Die unter der Hand geäußerte Erklärung kritischer burmesischer Journalisten lautet: Das Militär hat die Gewalt provoziert. Es benutzt die Krise, um Aung San Suu Kyis Partei zu schwächen. Wenn das die Wahrheit ist, ist sie bitter. Und wenn es so weitergeht ohne eine Lösung der Krise, gibt es womöglich auch bald keine Rohingya mehr in Myanmar.
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