Mutterliebe statt Selbstverwirklichung

Indien kurz nach der Unabhängigkeit: Meera ist ein wahrer Trotzkopf, widerspricht ihrem Vater, wo sie nur kann, und will auch nicht seine Pläne für ein Studium verfolgen. Als sie ein Kind erwartet, ändert sich ihr Leben dramatisch, weil ihr Sohn von nun an im Zentrum steht.
Shiva ist einer dieser Romane, bei denen man die Hauptfigur ab und an schütteln möchte, doch endlich Vernunft anzunehmen und sich den Tatsachen zu stellen.

Meera jedenfalls, zweite von drei Töchtern eines Verlegers in Delhi, ist von klein an ein Trotzkopf, der allem, was ihr Vater von ihr verlangt, widerspricht, nur um ihm nicht recht zu geben. Sie rebelliert gegen jede Art von Bevormundung, handelt spontan und unüberlegt und wählt so freiwillig ein Schicksal, mit dem sie hadert.

Meera ist keine Schönheit, der die Männer hinterherlaufen. Als sich eine Gelegenheit bietet, ihrer hübscheren Schwester einen Verehrer auszuspannen, zögert sie nicht lange und verführt ihn.

Dev, ein gut aussehender Junge mit einer schönen Stimme stammt aus einem armen Haushalt. Sie heiratet ihn, da sie ein Kind erwartet. Doch von Vater und Ehemann unter Druck gesetzt, treibt sie ab. Ihr Vater nämlich verspricht Dev, ihnen dafür eine Wohnung in Bombay zu schenken. Der Sänger hofft auf eine Karriere in Bollywood und der Vater hofft, dass seine Tochter studiert. Doch aus beidem wird nichts.

Meera verweigert sich, Devs Gesang ist nicht gefragt. Er verfällt dem Alkohol. Dann aber ändert sich Meeras Leben dramatisch. Sie bekommt einen Sohn, den sie fortan abgöttisch liebt und verhätschelt. Das hat heftige Konsequenzen.

Manil Suri lässt uns die weitgehend chronologisch aufgebaute Geschichte, die 1955 kurz nach Indiens Unabhängigkeit beginnt, durch die Augen Meeras sehen. Seine Sprache ist denn auch gefühlsbetont, vollgesogen mit Gerüchen, Farben, Stimmungen. Mit dem Blick auf Meeras Sohn Ashwin, dem Mittelpunkt ihres Lebens, beginnt und endet der Roman. Als er schließlich auf ein Internat geht, bricht die Welt seiner Mutter zusammen. Weder der Tod ihres Mannes noch ihres Vaters haben eine ähnlich starke Erschütterung ausgelöst. Das Kind als Ersatz für die Welt, von der sie enttäuscht ist, die ihr nie das gegeben hat, wovon sie träumte.

Es ist manchmal geradezu beklemmend mitzuerleben, mit welcher Hingabe Meera ihr Kind umhegt und liebt. Selbst als der Junge in die Pubertät kommt, kann sie nicht von ihm lassen. Ihre Beziehung hat stark inzestuöse Züge.

Meera verkörpert in ihrer asketischen Aufopferung für den Sohn den janusköpfigen indischen Gott Shiva, der die Welt rettet und zerstört, sowohl tanzt wie auch tötet. Der Roman ist für Manil Suri als mittlerer Teil einer Trilogie über Indiens drei Gottheiten Vishnu, Shiva und Brahma gedacht.

Der Schriftsteller lässt in seinem Roman jene zwei Welten aufeinanderstoßen, die bis heute Indien prägen. Meeras Vater, ein gebildeter, aufgeklärter Mann, ein Verächter alles Religiösen, steht für den Fortschritt, die Emanzipation der Frau. Er möchte seinen drei Töchtern eine gute Ausbildung bieten. Ihr Schwiegervater, ein kleiner Bahnbeamter, ist ein fanatischer, engstirniger Hindu-Nationalist, voller religiöser Vorurteile und abergläubisch. Beiden verweigert die Hauptfigur ihre Gefolgschaft, so wie sie sich jeglicher Politik enthält.

Manil Suri zeigt sehr deutlich, welchen enormen Schwierigkeiten eine junge Frau in Indien gegenübersteht, die ihren eigenen Weg gehen will. Meera wird zwischen den Anforderungen zerrieben, rettet sich in ihre Mutterliebe und vergisst dabei, sich selbst zu verwirklichen. Das kostet sie fast das Leben.

Besprochen von Johannes Kaiser

Manil Suri: Shiva
Aus dem Englischen von Anette Grube
Luchterhand Verlag, München 2009
496 Seiten, 24,95 Euro