"Mutter und Sohn"

Von Hannelore Heider · 22.05.2013
Der Sohn überfährt aus Unachtsamkeit ein Kind, seine Mutter versucht zu retten, was zu retten ist. Mit allen Mitteln. Goldener-Bär-Gewinner Calin Peter Netzer zeigt unaufgeregt, wie die rumänische Gesellschaft 25 Jahre nach dem Ende der Ceausescu-Diktatur funktioniert.
Der 38-Jährige rumänische Regisseur Calin Peter Netzer gewann mit seinem Film den Goldenen Bären der diesjährigen Berlinale und setzt damit die Erfolgsserie des neuen rumänischen Filmes fort, die schon 2007 in Cannes mit dem Abtreibungsdrama "Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage" unter der Regie von Cristian Mungiu für einen Paukenschlag sorgte. Es wird von einem Kino der Wahrhaftigkeit gesprochen und damit ist die herausragende Eigenschaft dieser Filme mit starken individuellen Geschichten, die organisch in einem gesellschaftlichen Kontext erzählt werden, gewürdigt.

Hier ist es ein Autounfall, der die konfliktreiche Beziehung einer starken, manipulativen Mutter zu ihrem erwachsenen Sohn dramatisch verschärft. Barbu (Bogdan Dumitrache) hat ein Kind bei einem zu schnellen Überholmanöver überfahren. Seine Mutter Cornelia (Luminita Gheorghiu) setzt sich mit einer Freundin sofort in ihren protzigen Wagen, um bei der polizeilichen Untersuchung noch am Unfallort zu retten, was zu retten ist. Sie lässt ihre Beziehungen spielen, sie versucht zu beeinflussen, zu bestechen und zu vertuschen.

Calin Peter Netzer zeigt unaufgeregt, wie die rumänische Gesellschaft 25 Jahre nach dem Ende der Ceausescu-Diktatur funktioniert, wie eine reiche Oberschicht, der Cornelias Familie angehört, Behörden und Gesetze manipuliert. Was den Film aber über diese genau beobachteten Vorgänge hinaus interessant und berührend macht, ist das individuelle moralische Drama, das von dem gesellschaftlichen Dilemma nicht zu trennen ist. Menschen wie Cornelia meinen, mit Geld, Beziehungen und einem arroganten Impetus alles im Leben nach ihren Vorstellungen richten zu können. Ihr Sohn verweigert sich dem schon lange, jetzt sieht sie die Chance, ihn wieder fest an sich zu binden.

Es ist bemerkenswert, dass Calin Peter Netzer für den Zuschauer weder mit dieser Mutter noch ihrem Sohn Identifikationsfiguren schafft. Sie sind beide gleich unsympathisch wie auch die anderen Figuren im Film. Erst ganz zum Schluss kommt die Familie des Opfers ins Spiel. Bis dahin beschäftigt sich der Sohn viel mehr mit der Abwehr der Übermutter und seinen eigenen Beziehungsproblemen. Mit der Handkamera ganz nah an seinen Protagonisten, nüchtern, fast dokumentarisch und doch sehr komplex werden so Strukturen sichtbar, die zu moralischen Entgleisungen führen, ohne dass den Filmhelden etwas von ihrem Menschsein oder die Chance auf Veränderung genommen wird.


Barbu (Bogndan Dumitrache) zu Besuch bei seinen Eltern.
Barbu (Bogndan Dumitrache) zu Besuch bei seinen Eltern.© X Verleih
Rumänien 2013. Regie: Calin Peter Netzer. Darsteller: Bogdan Dumitrache, Ilinca Goia. 112 Minuten, ab 12 Jahren.