Mutanten-Chöre

Gemeinsam singen trotz Stimmbruch

06:18 Minuten
Jungs halten Kerzen und Notenblätter in den Händen und singen in einer Kirche.
Als Knaben singen die Chorsänger noch selbstverständlich Sopran, aber irgendwann kommt dann der Stimmwechsel. © Bettmann Archive / Bettmann
Von Julia Eikmann · 04.02.2023
Audio herunterladen
Im Mutanten-Chor singen keine Zombies. Gemeint sind Sänger im Stimmwechsel, der medizinisch Mutation heißt. Denn auch wenn die Stimme für den Knabenchor zu tief und für den Männerchor nicht tief genug ist, gibt es gute Gründe dafür weiterzusingen.
Singen im Knabenchor ist mehr als nur der perfekte Vortrag der Literatur in altersunangemessener Garderobe.
„Wenn ich singe, ist es für mich ein ganz, ganz großes Gefühl“, sagt der 16-jährige Leandro. „Es beseelt mich immer sehr. Vor allem ist es ein Teamgeist, den ich sonst nicht spüre. Das ist eine ganz unglaubliche Art von Leidenschaft.“
Singen im Chor, das ist Gemeinschaft, Glück und Gefühl – und plötzlich ist es vorbei. Bei den einen früher, bei den anderen später, aber der Stimmwechsel – auch Mutation genannt, – kommt wie das Halleluja in der Kirche.

Das Körperwachstum erreicht den Stimmapparat

Es ist ein absolut normaler Abschnitt in der Entwicklung kindlicher Stimmen, übrigens bei Jungen wie bei Mädchen. Allerdings ist es bei Jungen deutlicher zu hören, wenn das Körperwachstum auch den Stimmapparat erreicht. Die Stimmlippen werden länger, die Stimme tiefer.
Auf dem Weg dahin kann es schon mal durcheinandergehen. Plötzliches Kieksen, Heiserkeit, Voicecracks. Unerheblich im Alltag. Der Horror für glockenhell klingende Knabenchöre.

Bei dem einen passiert es wirklich sehr plötzlich, dass man wirklich von einer Woche zur anderen merkt: Das geht jetzt nicht mehr. Du würdest dir wirklich nichts Gutes tun, wenn du weiter singst. Also, dann nehmen wir dich mal raus.

Gotthold Schwarz, ehemaliger Thomaskantor

Gotthold Schwarz war Leiter des Leipziger Thomanerchors und hat die Knaben und Männer jahrelang in der Stimmbildung begleitet. Und die vom Chor Freigestellten, die Dispensierten, für die er eine eigene Formation gegründet hat.
„Wir haben den Dispi-Chor genannt, also die Dispensierten. Also, als Chor kann man das eigentlich nicht bezeichnen. Die singen einfache Sachen, zweistimmige Sachen“, erklärt er.
Einmal pro Woche kommen in der Berliner Universität der Künste die Voces in Spe zusammen. Hier werden die Sänger des Staats- und Domchors auf ihrem Weg zur neuen Stimmlage begleitet. Im Proberaum ganz am Ende des langen Ganges stehen 15 Teenager im Halbkreis um einen Flügel.
Die jüngeren im Harry-Potter-Shirt, die älteren mit tief sitzender Jeans und Hoodie. Die einen noch mit den pubertätstypisch in die Länge geschossenen Gliedmaßen, andere bereits wieder in schöner Körperharmonie. Irgendwo zwischen Knaben und Männern. Aber alle mit kerzengeradem Rücken.

„Ich dachte erst, ich wäre erkältet“

Manche sind nur ein paar Wochen dabei, andere viele Monate. Leandro ist 16 Jahre alt und seit etwa einem Jahr nicht mehr Herr seiner Stimme.

Es fing an, dass ich die hohen Töne irgendwie gar nicht mehr bekommen habe. Irgendwann hat es anfangen, dass ich immer tiefer wurde. Dann habe gemerkt: Okay, das ist jetzt nicht Heisersein, das ist jetzt nicht Kranksein. Ich dachte erst, dass ich erkältet wäre – war dann ein bisschen lange.

Leandro, Sänger im Stimmwechsel

Als Knaben kommen die Chorsänger noch selbstverständlich in den Sopran. Mädchen und Jungenstimmen sind kaum zu unterscheiden. Dann setzt die Pubertät ein. Die Körperteile wachsen. Der Singapparat ist noch nicht wieder eingespielt. Die Töne zu halten ist schwierig. Immer wieder bricht die Stimme weg oder überschlägt sich.
Was beim Jodeln zum Prinzip erhoben wird, ist im Chor schwierig. Diese Phase des Dazwischen dauert unterschiedlich lang, von einigen Wochen bis zu einigen Jahren. Allgemein setzt die Mutation, die stimmliche Dazwischen-Phase, immer früher ein.

Stimmwechsel beginnt heute früher

„Eigentlich hat sich das in den letzten 30, 40 Jahren schon sehr nach vorn verlagert. Ich habe selbst als 16-Jähriger noch Sopran gesungen“, sagt der ehemalige Thomaskantor Gotthold Schwarz. „Johann Sebastian Bach war in Lüneburg an der St.-Michaelis-Schule, hat dort sein Abitur machen können und musste dort kein Schulgeld zahlen, weil er eben als Abiturient noch Sopran singen konnte.“

Abonnieren Sie unseren Denkfabrik-Newsletter!

Hör- und Leseempfehlungen zu unserem Jahresthema „Es könnte so schön sein… Wie gestalten wir Zukunft?“. Monatlich direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
In der Regel kommen die Jungen heute mit zwölf oder 13 in den Stimmwechsel. Manche früher, einige später. Für einen Knabenchor bedeutet das ganz praktisch, dass er sich etwa alle vier Jahre komplett austauscht. Eine Herausforderung. Kaum sind die Sänger fit fürs große Konzert, müssen sie die Gemeinschaft schon wieder verlassen.
„Der erste Gedanke, den ich bekommen habe, war: ‚Scheiße, keine Konzerte mehr!‘. Also, im Konzertchor, im Staats- und Domchor hat es mir ganz, ganz viel Spaß gemacht. Da waren natürlich auch alle meine Freunde und da jetzt raus zu gehen, ist natürlich schon eine krasse Sache“, erzählt Leandro.

Die Gemeinschaft erhalten

Um nicht ganz aus der Gemeinschaft zu fallen – und natürlich auch, um die bereits ausgebildeten Sänger für den Männerchor zu halten, – gibt es die Stimmwechselchöre.
Bis die neue Stimmlage im Männerregister gefunden und eingerichtet ist, arbeiten die Sänger hier theoretisch oder sehr sanft mit der Stimme. Auch Atemübungen und Gehörbildung wird Platz eingeräumt. Vor allem aber ist Zeit, sich und seine Stimme kennen und einschätzen zu lernen.
Chorleiter Lukas Schulze erklärt: „Das ist ja, was letztendlich Chorgesang überhaupt ausmacht. Oder gemeinsames Musizieren, dass man weiß, ab welchem Punkt man sich selbst vielleicht zurücknehmen muss, damit das Gesamtkonstrukt Musik am Ende schön wird.
Ob es letztlich ein Bass wird, ein Bariton oder ein Tenor: Wenn sich das neue Stimmspektrum gefestigt hat, in der Post-Mutationsphase, geht es weiter. In einem neuen Chor. Bis dahin ist Zeit, herauszufinden, wer man ist – im Raum dazwischen.
Mehr zum Thema