Mut zum zweiten Blick

Von Roland Krüger · 24.05.2006
Die türkischstämmige Künstlerin Nevin Aladag hat sich mit Video-Installationen und Fotoserien hervorgetan. Zurzeit ist eine Arbeit von ihr in einer Gruppenausstellung im Goethe-Institut in Mexiko City zu sehen. Ihr liegt viel daran, dass die Betrachter genau hinsehen und einen zweiten Blick riskieren.
Eine Hand hält eine Mundharmonika aus einem fahrenden Auto. Man kann die Töne hören, die der Fahrtwind auf dem Instrument spielt. Schnitt.

Dann eine Aufnahme von einem Schlagzeug, das im Regen steht. Die prasselnden Tropfen sind die Sticks, die dem Schlagzeug Töne entlocken. Wieder Schnitt.

Nun die Hauptaufnahme: zwei 14-jährige Jungs, die inbrünstig traditionelle türkische Lieder singen:

"Die hab ich im Görlitzer Park sozusagen singen hören und die haben alte türkische Klagelieder gesungen, und mich hat das sehr interessiert, weil ich die Lieder kannte, aber ich kannte sie eigentlich aus meiner Eltern- und Großelterngeneration, und mich hat es berührt, weil sie die Lieder wirklich sehr schön gesungen haben und die Texte auch auswendig konnten. Mich hat das eigentlich gewundert, wie kann jemand, der hier geboren ist und aufgewachsen, der eigentlich HipHop hören müsste oder andere Musik, solche Lieder singen und sie auch empfinden?"

Nevin Aladag, 34-jährige türkischstämmige Künstlerin, spricht über ihren Beitrag für eine Ausstellung, die noch bis zum 11. Juni beim Goethe-Institut in Berlins Partnerstadt Mexiko-City stattfindet. Ein Video mit dem Titel "Voice Over". Aladag und sieben weitere junge Künstler zeigen ihre Arbeiten, die alle geprägt sind durch das Leben in Berlin, einer zur Zeit faszinierenden Stadt, wie sie meint:

"Man hat das Gefühl, hier findet man Gleichgesinnte, man muss nicht unbedingt deutsch sprechen können, um hier in der Kunstszene sich behaupten zu können. Die Kunstszene ist immer international eigentlich, und in Berlin ist es wahrscheinlich im Moment die internationalste."

Nevin Aladag, hochgewachsen und modern bis salopp gekleidet, wurde 1972 in Van, ganz im Osten der Türkei, kurz vor der Grenze zum Iran, geboren. Als sie ein Jahr alt war, gingen ihre Eltern mit ihr nach Deutschland. Nevin verbrachte ihre Kindheit - wohlbehütet, wie sie sagt - in Stuttgart. Ihre Eltern sahen in Deutschland bessere Chancen für ihre fünf Kinder, und zumindest damals funktionierte in Stuttgart die Integration:

"Die Stadt wurde nicht so sehr aufgeteilt in Bezirke, wo mehr Ausländer oder Nicht-Ausländer leben und man war auf 'ner Schule, wo man natürlich auch ausländische Mitschüler hatte, und wo man eigentlich die Minderheit war, weil's einfach besser aufgeteilt war, ich hab das auch mal gelesen, dass die Integration in Stuttgart eigentlich am besten funktioniert hat, und ich empfinde es auch so."

Ein Kopftuch kann man sich bei Nevin Aladag kaum vorstellen. Nicht, dass sie etwas dagegen hätte, nur muss es freiwillig getragen werden. Ihre Eltern haben sie religiös, aber vollkommen undogmatisch erzogen. Alle vier Geschwister arbeiten künstlerisch, zwei ihrer drei Brüder sind Filmemacher geworden. Sie selbst studierte von 1993 bis 99 an der Akademie der bildenden Künste in München, unter dem Bildhauer Olaf Metzel. Zur Kunst hingezogen fühlte sich Nevin Aladag allerdings viel früher:

"Als Kind schon. Also ich wusste schon immer, dass ich was basteln möchte und mit Händen machen möchte und hab dann auch angefangen eben, mich für Bildhauerei zu interessieren, hab mich da beworben und hab das auch studiert."

Zurzeit sind Video-Installationen und Fotoserien ihre hauptsächlichen Arbeitsbereiche, was vor allem daran liegt, dass hierzu die meisten Anfragen kommen. Ihr eigenes Lieblingskunstwerk ist ein Modell aus dem Jahr 1996:

"Ich hab damals zwei Modellflugzeuge einfach nur zusammengebastelt und angemalt und die berühren sich an der Spitze, und das heißt Fliegerkuss. Nach dem 11. September hat mir dann ein Kurator gesagt, ich könnte das nie ausstellen, das ist zu direkt da dran und das find ich sehr schön, weil da so zwei Kräfte, zwei Ideen aufeinander prallen, das ist der Kuss und der Crash in einem. Das ist sozusagen mein kleiner Liebling."

Nevin Aladag hat durchaus nicht den Boden unter den Füßen verloren, eine Lebens- und eine Rentenversicherung hält sie für absolut notwendig:

"Ich bin schon 'n bisschen auf Sicherheit aus und da ich weiß, dass ich kein geregeltes Einkommen in dem Sinne habe, muss ich 'n bisschen vorsorgen, ob das ausreicht, weiß ich nicht."

Als Kind war sie jedes Jahr für mindestens vier Wochen auf Verwandtenbesuch in der Türkei. Aber erst in der letzten Zeit hat sie gemerkt, dass ihr eigenes Leben gar nicht so vollkommen anders verlaufen ist - trotz Kindheit und Jugend in Deutschland:

"Und dann hab ich viele meiner Cousinen und Cousins in den letzten Jahren kennen gelernt und auch die Kunstszene aus der Gegend, wo ich geboren bin, aus Ost-Anatolien, und die leben kein anderes Leben als ich. Das hat mich total gewundert, weil ich dachte, eigentlich müssten die doch längst verheiratet sein, aber es sind einfach Künstler, die 'n modernes Leben führen, die zum Teil noch da unten leben, aber es hat sich auch dort sehr viel entwickelt, was ich auch 'n bisschen ignoriert hab."

Musik, Tanz, festgehalten auf Video, auf Tonträgern oder auf Fotos. Mit 27 Jahren hat Nevin Aladag gemerkt, wohin sie künstlerisch wollte:

"'99 bin ich eigentlich auf diese Breakdance-Szene gestoßen. Ich hab ein Video machen wollen, mit dem Titel "Der Mann, der versucht, über seinen Schatten zu springen." Da ging's mir nur um diesen Ausdruck, den darzustellen, spielerisch und tänzerisch. Und da Breakdance ja aus dem Straßentanz kommt und nonverbale Sprache ist und alle Tanzrichtungen vereint, fand ich das sehr interessant und bin auf sehr kreative Tänzer gekommen, und hab mit denen dann einige Arbeiten verwirklicht und eine Bewegung ist der gefrorene Zustand. Dieses Innehalten, dieses In-Sich-Gekehrte, Autistische, hab ich fotografisch mit 'ner Langzeitbelichtung festgehalten, so dass an 'ner Straßenkreuzung die Autos und die Passanten verwischen und dass man dieses Freeze, dieses Innehalten noch stärker herausarbeitet."

Nevin Aladag selbst hält zurzeit kaum inne. Ihre Videoarbeit "Voice Over", die man gerade in Mexiko besichtigen kann, war schon in Berlin zu sehen. Ausstellungen und Projekte wechseln einander ab. Die Künstlerin fühlt sich in vielen Kulturen zu Hause. Oder besser: Zwischen diesen Kulturen.

Nevin Aladag liegt viel daran, dass man zweimal hinsieht, wenn man ihre Installationen verstehen will. Dann nämlich wird aus einem Freeze mehr als ein fabelhaftes Foto. Dann entsteht eine Aussage. Zum Thema Migration, Ortswechsel, Raumidentität, Irreführung und Versöhnung. Der Betrachter braucht, bildlich gesprochen, wirklich beide Augen.

Vielleicht ist es nur purer Zufall, aber: Der kurdische Ort, aus dem Nevin Aladag stammt, ist bekannt für eine Kuriosität: Van ist die Heimat einer besonderen Katzenart, den so genannten Van-Katzen. Sie haben jeweils ein blaues und ein grünes Auge.