Mut zum Verlust

In ihrem Essay "Die Kunst, sich zu verlieren", verabschiedet sich die Autorin von der aufklärerischen Maxime des Erkenntnisgewinns durch den Verstand und spricht sich dafür aus, den Verlust zuzulassen.
Wo wir uns umblicken - im Alltag, in der Lebenskultur, in der Psychologie, der Politik - in allen Bereichen unserer Realität gelten Überblick und Orientierung als hohe Werte. Wir verdanken diese Werte der Philosophie der Aufklärung, die uns beigebracht hat, das Dunkle mit der Kraft unseres Verstandes zu erhellen, das Unbekannte so lange zu erforschen, bis es uns bekannt ist, und das Unwägbare zu berechnen. Auf diese Weise behalten wir die Kontrolle.

In ihrem erzählenden Essay "Die Kunst, sich zu verlieren", schlägt die 1961 in Kalifornien geborene Schriftstellerin und Kunsthistorikerin Rebecca Solnit eine andere Lebenseinstellung vor. Sie beschreibt in diesen Geschichten, Episoden und reflektierenden Prosapassagen das Glück und die Glückschance des Loslassens. Verlorene Gegenstände, man weiß es aus Erfahrung, tauchen meist dann wieder auf, wenn man die verbissene Suche nach ihnen eingestellt hat.

Ebenso ist es mit Gedächtnislücken: Der vergessene, verlorene Name eines alten Schulfreunds lässt sich nicht willentlich herbei zwingen. Seine Rückkehr ins Gedächtnis wird von dessen entspannter Untätigkeit begünstigt. Diese kleinen Beispiele aus dem Alltag rechnet Rebecca Solnit hoch zu einer Lebensphilosophie des Verlierens, die an buddhistischen Einsichten lehnt. Das Faszinierende und etwas Irritierende an dem Buch der Amerikanerin ist jedoch vor allem, dass sein Thema auch seine Form und seine Dramaturgie bestimmt. Denn wer es liest, kann sich fühlen wie bei einem Gang durch ein Labyrinth, in dem man sich immer wieder verliert und verirrt.

Solnits belletristischer Essay ist nicht in konzentrischer Ordnung um eine zentrale These herum aufgebaut. Er ähnelt dem Herumstreifen durch eine unbekannte Stadt, in der an jeder Ecke etwas Unerwartetes auftaucht. Man begegnet bei der Lektüre den schussligen Großeltern der Autorin, die ständig etwas verlieren und sich nichts daraus machen, man begegnet aber auch Platon, Simone Weil, Leonardo da Vinci und dem Maler Yves Klein, der von der Farbe blau, der Farbe der unbekannten Ferne, besessen war und außerdem fest daran glaubte, eines Tages die Erdanziehung überwinden und fliegen zu können. Rebeccas Solnits Buch "Die Kunst, sich zu verlieren", ist anregend, unterhaltsam und in den philosophischen Passagen leicht zu lesen. Es verlangt dem Leser nur ein wenig Geduld mit dem Verlieren im gelegentlich Beliebigen ab.

Rebecca Solnit: Die Kunst, sich zu verlieren. Ein Führer durch den Irrgarten des Lebens
Aus dem Amerikanischen von Michael Mundhenk
Pendo Verlag, München 2009
221 Seiten. 16.95 Euro