Muss man sich vor den Türken fürchten?
Muss man sich vor den Türken fürchten? Seit dem Vordringen des Osmanischen Reiches auf europäisches Territorium im 14. Jahrhundert hat sich die Furcht vor den Türken ins europäische Gedächtnis eingebrannt. Ab dem 18. Jahrhundert schrumpfte das Osmanische Reich und verlor nach und nach seine Gebiete auf dem europäischen Kontinent.
1923 wurde die türkische Republik gegründet. Nur noch das kleine Thrakien, etwa so groß wie Hessen, erinnerte an das türkische Europa. Der Rest des Landes erstreckte sich auf Kleinasien, mit Grenzen an den Kaukasus, an Iran, Syrien und Irak.
Geographisch war die Türkei zu einem asiatischen Land geworden, nicht jedoch kulturell und politisch. Denn die türkische Republik war vor allem ein kulturrevolutionäres Projekt. Ihr Gründer Mustafa Kemal Pascha verpasste dem Land ein ambitioniertes Reformprogramm. Alle muslimischen, orientalischen Identitätsmerkmale der Türkei wurden aus dem öffentlichen Leben verbannt. So die arabischen Schriftzeichen, die durch lateinische ersetzt wurden. Der Staat und seine Institutionen wurden europäisch. Die Menschen jedoch nur teilweise.
Viele Türken waren Flüchtlinge, die aus den ehemaligen osmanischen Gebieten auf dem Balkan stammten. Vor allem sie schulterten die türkische Kulturrevolution. Die europäische Kultur war ihnen nicht fremd. Nicht zufällig stammte der Staatsgründer selbst aus Thessaloniki. Doch in der Türkei lebten auch anatolische Bauern, unter ihnen viele Kurden.
Für diese Gruppen war das ambitionierte Reformprogramm Kemals eine große Herausforderung. Jahrtausende alte Traditionen sollten hinterfragt und im Eiltempo überwunden werden. Moderne türkische Identität konnte nicht mehr durch die Zugehörigkeit zur islamischen Religion oder zu einer ethnischen Gruppe definiert werden. Wer religiös war, galt lange Zeit als rückschrittlich.
Auch die moderne türkische Literatur verschrieb sich dem Reformprogramm. Viele Autoren der ersten republikanischen Generation traten wie Lehrer auf. Das Volk musste aufgeklärt werden. Es entstanden viele emanzipatorische Werke. Vor allem der türkische Roman wurde zu einem Motor der Modernisierung.
Das Bildungsbürgertum, das diese Romane konsumierte, war jedoch klein. Die Masse der Bevölkerung machten die verarmten Bauern aus, viele von ihnen konnten weder lesen noch schreiben. Die türkische Moderne brachte auch eine sozial engagierte Literatur hervor. In ihr wurden die Sorgen und Nöte der kleinen Leute aufgefangen und beschrieben. Der erste große Romancier der türkischen Literatur, Yaşar Kemal, siedelte seine Romane in den südöstlichen Provinzen der Türkei an, bei Landarbeitern, Kleinbauern, landflüchtigen Stadtbewohnern.
Die Achtzigerjahre brachte eine Wende. Die Türkei wurde von der Globalisierung erfasst, das umfangreiche Bildungsprogramm trug erste Früchte. Die Industrialisierung des Landes kam schnell voran. Die Bauern strömten in die Städte und bildeten ein Subproletariat. Unter den Kurden, deren Identität lange Zeit unterdrückt wurde, regte sich neues Selbstbewusstsein. Auch die Muslime brachten nun ein Bürgertum und eine intellektuelle Elite hervor, die sich zu Wort meldeten. Der Staat reagierte mit Repressionen.
Die türkischen Autoren haben sich inzwischen von pädagogischen Aufträgen gänzlich gelöst. Das hat ihrer Literatur gut getan. Das, was sie schreiben, stößt international auf wachsendes Interesse. In den letzen fünf Jahren wurden mehr türkische Bücher in andere Sprachen übersetzt als in den fünfzig Jahren zuvor. Diese neue türkische Literatur vermittelt das Bild eines fragmentierten Landes, das nach einer neuen Identität ringt. Oft ist diese Suche ironisch gebrochen, da es einen einheitlichen Identitätsentwurf nicht mehr gibt. Vielmehr entstehen spannende Gegensätze und neue Kombinationen. Ein Symbol dafür ist die emanzipierte Frau mit Kopftuch, aber auch die Beliebtheit, die postmoderne Theorien unter jungen Muslimen genießen.
Die Türkei hat keine einheitliche Staatsphilosophie mehr. Sie ist auf dem Wege, ein normales Land zu werden. Was aber ist heute normal? Gibt es noch verbindliche Kriterien für ein Zivilisationsprojekt? Dass die Türkei sich weiterhin an europäischen Demokratien orientiert und nicht ein chinesisches oder russisches Staatsmodell anstrebt, wird von der großen Mehrheit der türkischen Bevölkerung unterstützt. Auch von denen, die der muslimischen Religion treu geblieben sind.
Doch eine philosophische Erneuerung der muslimischen Religion steht noch aus. Sie wäre die unverzichtbare Grundlage für die Demokratisierung der türkischen Gesellschaft. Ihr käme eine ähnliche Bedeutung zu, wie der jüdischen Emanzipation im 19. Jahrhundert. In den viel beachteten Werken türkischer Autoren wie Orhan Pamuk und Elif Shafak sind schon Spurenelemente einer solchen philosophischen Erneuerung zu finden. Mystische Traditionen werden archäologisch aufgespürt. Die heterogene türkische Gesellschaft wird detailgenau beschrieben, ohne ideologische Scheuklappen. Die moderne türkische Literatur bringt die Türkei Europa näher.
Zafer Senocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf. Er studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin, schreibt regelmäßig für "die tageszeitung" sowie für andere Zeitungen (u. a. "Berliner Zeitung", "Die Welt"). Arbeiten von Zafer Senocak wurden bislang ins Türkische, Griechische, Französische, Englische (u. Amerikanische), Hebräische und Niederländische übersetzt. Er erhielt mehrere Stipendien und 1998 den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis. Die mehrsprachige Zeitschrift "Sirene" wurde bis 2000 von ihm mitherausgegeben. Veröffentlichungen u. a. "Fernwehanstalten" 1994. Nâzım Hikmet: "Auf dem Schiff zum Mars". Zusammen mit Berkan Karpat,1998. "Tanzende der Elektrik. Szenisches Poem." Zusammen mit Berkan Karpat, 1999. Die Tetralogie "Der Mann im Unterhemd". Prosa. Berlin (Babel) 1995. "Die Prärie". Hamburg (Rotbuch) 1997. "Gefährliche Verwandtschaft". Roman. München (Babel) 1998. "Der Erottomane". Ein Findelbuch. München (Babel) 1999. "Atlas des tropischen Deutschland". Essays. Berlin (Babel) 1992, 1993 "War Hitler Araber? Irreführungen an den Rand Europas". Essays. Berlin (Babel) 1994. "Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation". München (Babel) 2001, "Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch" Berlin (Babel) 2006.
Geographisch war die Türkei zu einem asiatischen Land geworden, nicht jedoch kulturell und politisch. Denn die türkische Republik war vor allem ein kulturrevolutionäres Projekt. Ihr Gründer Mustafa Kemal Pascha verpasste dem Land ein ambitioniertes Reformprogramm. Alle muslimischen, orientalischen Identitätsmerkmale der Türkei wurden aus dem öffentlichen Leben verbannt. So die arabischen Schriftzeichen, die durch lateinische ersetzt wurden. Der Staat und seine Institutionen wurden europäisch. Die Menschen jedoch nur teilweise.
Viele Türken waren Flüchtlinge, die aus den ehemaligen osmanischen Gebieten auf dem Balkan stammten. Vor allem sie schulterten die türkische Kulturrevolution. Die europäische Kultur war ihnen nicht fremd. Nicht zufällig stammte der Staatsgründer selbst aus Thessaloniki. Doch in der Türkei lebten auch anatolische Bauern, unter ihnen viele Kurden.
Für diese Gruppen war das ambitionierte Reformprogramm Kemals eine große Herausforderung. Jahrtausende alte Traditionen sollten hinterfragt und im Eiltempo überwunden werden. Moderne türkische Identität konnte nicht mehr durch die Zugehörigkeit zur islamischen Religion oder zu einer ethnischen Gruppe definiert werden. Wer religiös war, galt lange Zeit als rückschrittlich.
Auch die moderne türkische Literatur verschrieb sich dem Reformprogramm. Viele Autoren der ersten republikanischen Generation traten wie Lehrer auf. Das Volk musste aufgeklärt werden. Es entstanden viele emanzipatorische Werke. Vor allem der türkische Roman wurde zu einem Motor der Modernisierung.
Das Bildungsbürgertum, das diese Romane konsumierte, war jedoch klein. Die Masse der Bevölkerung machten die verarmten Bauern aus, viele von ihnen konnten weder lesen noch schreiben. Die türkische Moderne brachte auch eine sozial engagierte Literatur hervor. In ihr wurden die Sorgen und Nöte der kleinen Leute aufgefangen und beschrieben. Der erste große Romancier der türkischen Literatur, Yaşar Kemal, siedelte seine Romane in den südöstlichen Provinzen der Türkei an, bei Landarbeitern, Kleinbauern, landflüchtigen Stadtbewohnern.
Die Achtzigerjahre brachte eine Wende. Die Türkei wurde von der Globalisierung erfasst, das umfangreiche Bildungsprogramm trug erste Früchte. Die Industrialisierung des Landes kam schnell voran. Die Bauern strömten in die Städte und bildeten ein Subproletariat. Unter den Kurden, deren Identität lange Zeit unterdrückt wurde, regte sich neues Selbstbewusstsein. Auch die Muslime brachten nun ein Bürgertum und eine intellektuelle Elite hervor, die sich zu Wort meldeten. Der Staat reagierte mit Repressionen.
Die türkischen Autoren haben sich inzwischen von pädagogischen Aufträgen gänzlich gelöst. Das hat ihrer Literatur gut getan. Das, was sie schreiben, stößt international auf wachsendes Interesse. In den letzen fünf Jahren wurden mehr türkische Bücher in andere Sprachen übersetzt als in den fünfzig Jahren zuvor. Diese neue türkische Literatur vermittelt das Bild eines fragmentierten Landes, das nach einer neuen Identität ringt. Oft ist diese Suche ironisch gebrochen, da es einen einheitlichen Identitätsentwurf nicht mehr gibt. Vielmehr entstehen spannende Gegensätze und neue Kombinationen. Ein Symbol dafür ist die emanzipierte Frau mit Kopftuch, aber auch die Beliebtheit, die postmoderne Theorien unter jungen Muslimen genießen.
Die Türkei hat keine einheitliche Staatsphilosophie mehr. Sie ist auf dem Wege, ein normales Land zu werden. Was aber ist heute normal? Gibt es noch verbindliche Kriterien für ein Zivilisationsprojekt? Dass die Türkei sich weiterhin an europäischen Demokratien orientiert und nicht ein chinesisches oder russisches Staatsmodell anstrebt, wird von der großen Mehrheit der türkischen Bevölkerung unterstützt. Auch von denen, die der muslimischen Religion treu geblieben sind.
Doch eine philosophische Erneuerung der muslimischen Religion steht noch aus. Sie wäre die unverzichtbare Grundlage für die Demokratisierung der türkischen Gesellschaft. Ihr käme eine ähnliche Bedeutung zu, wie der jüdischen Emanzipation im 19. Jahrhundert. In den viel beachteten Werken türkischer Autoren wie Orhan Pamuk und Elif Shafak sind schon Spurenelemente einer solchen philosophischen Erneuerung zu finden. Mystische Traditionen werden archäologisch aufgespürt. Die heterogene türkische Gesellschaft wird detailgenau beschrieben, ohne ideologische Scheuklappen. Die moderne türkische Literatur bringt die Türkei Europa näher.
Zafer Senocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf. Er studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin, schreibt regelmäßig für "die tageszeitung" sowie für andere Zeitungen (u. a. "Berliner Zeitung", "Die Welt"). Arbeiten von Zafer Senocak wurden bislang ins Türkische, Griechische, Französische, Englische (u. Amerikanische), Hebräische und Niederländische übersetzt. Er erhielt mehrere Stipendien und 1998 den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis. Die mehrsprachige Zeitschrift "Sirene" wurde bis 2000 von ihm mitherausgegeben. Veröffentlichungen u. a. "Fernwehanstalten" 1994. Nâzım Hikmet: "Auf dem Schiff zum Mars". Zusammen mit Berkan Karpat,1998. "Tanzende der Elektrik. Szenisches Poem." Zusammen mit Berkan Karpat, 1999. Die Tetralogie "Der Mann im Unterhemd". Prosa. Berlin (Babel) 1995. "Die Prärie". Hamburg (Rotbuch) 1997. "Gefährliche Verwandtschaft". Roman. München (Babel) 1998. "Der Erottomane". Ein Findelbuch. München (Babel) 1999. "Atlas des tropischen Deutschland". Essays. Berlin (Babel) 1992, 1993 "War Hitler Araber? Irreführungen an den Rand Europas". Essays. Berlin (Babel) 1994. "Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation". München (Babel) 2001, "Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch" Berlin (Babel) 2006.