Muslime in Deutschland

Salafismus als jugendliche Protestkultur

Junge Frauen verfolgen eine Kundgebung des radikalen Salafistenpredigers Pierre Vogel in Offenbach am Main.
Junge Frauen verfolgen eine Kundgebung des radikalen Salafistenpredigers Pierre Vogel in Offenbach am Main. © picture alliance / dpa / Boris Roessler
Julia Gerlach im Gespräch mit Dieter Kassel · 03.06.2016
Nicht nur Religiosität und die Sogwirkung des IS in Syrien steckt hinter der Hinwendung vieler Jugendlicher zum Salafismus, meint die Journalistin Julia Gerlach. Sondern auch der Wunsch von Jugendlichen nach Protest. Das dürfe man nicht unterschätzen.
Wenn sich Jugendliche in Deutschland Salafisten anschließen, ist das der Journalistin und Islamwissenschaftlerin Julia Gerlach zufolge auch Ausdruck von Jugendprotest.
Man dürfe den Protestcharakter des Salafismus nicht unterschätzen, sagt sie.
"Wenn Sie heute in der Schule Ihren Lehrer oder Ihre Lehrerin provozieren wollen, dann reicht das nicht, dass Sie sich die Haare rot färben und eine Lederjacke anziehen, so wie wir das früher gemacht haben. Sondern Sie gehen hin und sagen, ich bin radikaler Moslem und ich möchte gern vier Frauen heiraten. Da können Sie sicher sein, dass Sie sehr, sehr viel Aufmerksamkeit kriegen und die ganze Schule darüber redet."

"Wenn man provozieren möchte, ist das der Weg"

Als Beispiel nennt Gerlach den Fall der beiden Jugendlichen aus der Schweiz, die sich weigerten, ihrer Lehrerin die Hand zu geben.
"Da hat ja nicht nur die Schweiz, sondern auch Deutschland drüber gesprochen. Im Moment, wenn man provozieren möchte, ist das der Weg", sagt Gerlach, die für die Bertelsmann-Stiftung die Studie "Auf dem Weg zu einem europäischen Islam" verfasst hat.

Um das Thema "Europäischer Islam" geht es auch bei einer Diskussionsveranstaltung am Freitagvormittag in Berlin im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Miteinander Leben – Perspektiven durch Einwanderung in Deutschland und Österreich" des Deutschlandradios, des Österreichischen Rundfunks und der Bertelsmann-Stiftung. Einen Mitschnitt dieser Diskussion können Sie am Sonntag-Nachmittag ab 14.05 Uhr in unserer Sendung "Religionen" hören.


Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: "Miteinander leben. Perspektiven durch Einwanderung in Deutschland und Österreich", so heißt eine gemeinsame Veranstaltungsreihe des Deutschlandradios, des Österreichischen Rundfunks und der Bertelsmann-Stiftung. Und im Rahmen dieser Reihe geht es heute Vormittag in Berlin um den Weg zu einem europäischen Islam.
Und eine Grundlage für diese Diskussion bietet auf jeden Fall auch die aktuelle Studie von Julia Gerlach, denn die heißt sogar so ähnlich wie diese Veranstaltung, die Studie heißt: "Auf dem Weg zu einem Europäischen Islam – oder ist dieser womöglich längst Realität?" Schönen guten Morgen, Frau Gerlach!
Julia Gerlach: Guten Morgen!

Deutsche Muslime leben ihren Islam anders

Kassel: Ich spitze mal ein wenig zu: Gibt es tatsächlich so etwas wie einen typisch deutschen Islam?
Gerlach: Das ist natürlich die Frage, wo man hinschaut und wonach man fragt und wonach man sucht. Also, den Islam in Deutschland, dass es eine große Anzahl von Muslimen gibt, die hier leben, das ist ja schon eine ganze Weile so, schon seit vielen Jahrzehnten. Und tatsächlich, wenn man hinschaut, fühlen viele sich nicht nur als Deutsche, sondern sie haben auch eine neue Art oder eine andere Art gefunden, ihren Islam im Alltag zu leben, der sich deutlich unterscheidet von dem, was wir zum Beispiel aus Ägypten kennen oder Saudi-Arabien kennen oder Afghanistan kennen.
Kassel: Aber ist nicht schon der Begriff europäischer Islam oder auch abgekürzt gerne inzwischen "Euro-Islam" für manche ein Problem? Ich meine, manche Kritiker sagen ganz banal, wenn wir das Euro-Islam nennen, würde es bedeuten, wenn ich in die USA umziehe, funktioniert es schon nicht mehr.
Gerlach: Das ist das nächste Problem. Das eine ist das, das man beobachten kann, wenn man sich umschaut und wenn man mit Leuten spricht, und das andere ist die Frage, wie man das dann benennt. Und tatsächlich ist dieser Begriff europäischer Islam oder gar Euro-Islam extrem umstritten, vor allen Dingen unter Muslimen. Denn in der Vergangenheit waren diese Begriffe immer nicht benutzt worden, um diese Situation zu beschreiben, sondern um ein Konzept zu formulieren, so sollte der Islam sein, damit der gut nach Europa passt.
Also, in vielen Fällen bedeutete das, dass die Muslime sich von der Scharia, also dem islamischen Recht trennen sollten, dass man hier nur das ethische Konzept des Islams leben könnte. Da haben viele einfach mit diesem Begriff europäischer Islam so eine Art Forderungskatalog verstanden, inwieweit sie sich anpassen müssen, damit sie hier dazugehören. Das wird natürlich von vielen auch zu Recht abgelehnt. Dennoch ist es so, dass man eben das im Alltag beobachten kann, dass es eine andere Art, eine neue Art, eine eigene Art gibt, den Islam zu leben.

Den Islam in Deutschland beheimaten

Kassel: Nun stellt sich natürlich die Frage – und die müssen wir jetzt mal klären für die Leute, die uns zuhören –, wie man eine solche Studie überhaupt macht, wen man da fragt. Denn es gibt ja nicht den Islam und es gibt nicht die Muslime und es gibt auch keine Verbände, die wenigstens eine deutliche Mehrheit von ihnen vertreten würden. Mit wem haben Sie denn gesprochen für diese Studie?
Gerlach: Ja, das ist genau das Problem, mit wem man da spricht. Ich habe mich bemüht, mich umzuschauen nach Leuten, die sich in irgendeiner Form dafür einsetzen, dass der Islam hier stärker beheimatet wird, also die sich dafür einsetzen beispielsweise in Moscheen, in denen bisher auf Türkisch oder auf Arabisch gepredigt wurde, die sich dafür einsetzen, dass das mehr auf Deutsch stattfindet beispielsweise. Oder die sich dafür einsetzen, dass junge Muslime Jugendverbände gründen, Gruppen gründen und diese auch institutionalisieren, indem sie zum Beispiel Jugendgruppenleiterscheine machen.
Oder Leute, die Professoren, die jetzt an den neuen Lehrschulen für islamische Theologie oder islamische Religionspädagogik dafür zuständig sind, etwas aufzubauen, was ja dann auch typisch deutsch ist, also eine Religionspädagogik, in der Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet werden, die dann an deutschen Schulen muslimische Kinder unterrichten sollen.
Also, da entsteht ja auch etwas Neues. Ich habe mich umgeschaut nach diesen Leuten, die dabei sind, an diesem Neuen zu arbeiten, und hatte zudem das Glück, dass ich vor genau zehn Jahren schon einmal eine größere Studie gemacht habe auch mit jungen Leuten, die sich damals in der Bewegung des Popislam eingesetzt haben, und ich habe einfach diese Leute noch mal wieder besucht. Die waren damals ziemlich vorneweg und so Avantgarde und ich habe mir von ihnen erzählen lassen, was in den letzten zehn Jahren passiert ist in ihrem Leben und aus ihrer Sicht im Islam in Deutschland, wo man auch viel von dieser Entwicklung mitkriegen konnte. Also hin zu einer Beheimatung, hin zu einer stärkeren Institutionalisierung des Islams und auch hin zu einer stärkeren Individualisierung des islamischen Lebens.

Salafisten sind auch "typisch deutsch"

Kassel: Ich höre jetzt gerade ziemlich viele Leute vor den Radios oder auch Computern aufstöhnen, ach, das ist ja mal wieder typisch, mit den Konservativen, mit den Fundamentalisten hat sie nicht gesprochen! Und ich frage mich ehrlich gesagt auch, kriegt man bei dieser Auswahl an Gesprächspartnern wirklich ein realistisches Bild vom Islam in Deutschland?
Gerlach: Man bekommt insofern ein realistisches Bild, weil es das auch gibt. Und dann – und das ist ein bisschen der Haken, wo andere Leute auch geschluckt haben –, ich habe den Begriff europäischer Islam für meine Studie sehr deskriptiv verwandt. Also, ich habe gesagt, ich beschreibe das, was es gibt, und nicht das, was es geben soll. Und in dieser Beschreibung fallen die Salafisten beispielsweise, also diese sehr radikale Gruppe auch darunter. Und tatsächlich sind die auch typisch deutsch, das sind junge Leute, die geprägt sind sowohl vom Islam, aber natürlich auch von unserer Gesellschaft und von der Sozialisation hier.
Die Konservativen und die Verbände, also die sehr große Mehrheit der Muslime, die hier leben, vor allen Dingen der älteren Generation, die kommen in der Studie auch vor, aber in erster Linie so als Abgrenzung von den anderen. Also, das sind die, an denen sich diese Gruppe der Avantgarde, nenne ich das jetzt mal, abarbeitet, von der sie sich abgrenzen will und die sie mitziehen möchte.

Den Protestcharakter des Salafismus nicht unterschätzen

Kassel: Wo Sie jetzt selber schon die Salafisten erwähnt haben, lassen Sie mich doch bitte einen Satz zitieren, oder eigentlich sind es, wenn ich ehrlich bin, zwei aus Ihrer Studie, das ist nämlich etwas, was mich persönlich schon irritiert hat.
Sie schreiben nämlich: "Gibt es nicht viele Parallelen zwischen deutschen Salafisten 2016 und linksradikalen Autonomen 1986? Ein großer Vorteil in dieser Art der Definition ist, dass sie mit der Erkenntnis verbunden ist, dass der radikale Salafismus und das Gewaltpotenzial, das von ihr ausgeht, als Ausdruck einer typisch deutschen Jugendkultur auch nur durch gemeinsame Anstrengung der Gesellschaft in Deutschland, dass dem nur dadurch etwas entgegengesetzt werden kann", Zitatende. Der Salafismus als typisch deutsche Jugendkultur?
Gerlach: Ja, wenn Sie sich anschauen, wer da mitmacht und was die Gründe sind, wieso Jugendliche da mitmachen, dann hat das was mit dem Islam zu tun und dass es diese Bewegung in der islamischen Welt gibt, dass es den IS in Syrien gibt, aber es hat auch extrem viel damit zu tun, wie man hier in Deutschland aufwächst. Und dass so Protestkulturen, provokative Jugendkulturen, die haben bei uns auch schon immer dazugehört. Und wenn Sie heute in der Schule Ihren Lehrer oder Ihre Lehrerin provozieren wollen, dann reicht es nicht, dass Sie sich die Haare rot färben und eine Lederjacke anziehen, so wie wir das früher gemacht haben.
Sondern Sie gehen hin und sagen, ich bin radikaler Moslem und ich möchte gerne vier Frauen heiraten. Da können Sie sicher sein, dass Sie sehr, sehr viel Aufmerksamkeit kriegen und die ganze Schule darüber redet. Und ein gutes Beispiel waren zum Beispiel diese beiden pubertierenden Jugendlichen, die in der Schweiz kürzlich ihrer Lehrerin nicht die Hand geben wollten. Da hat ja nicht nur die Schweiz, sondern auch Deutschland drüber gesprochen. Das ist im Moment, wenn man provozieren möchte, ist das der Weg. Das ist ein Teil der Bewegung.
Es gibt natürlich auch diese Komponente mit der Verbindung nach Syrien, aber ich glaube, dass man diesen Protestcharakter des Salafismus einfach nicht unterschätzen darf. Und das gibt vor allen Dingen auch Ansatzpunkte, mit diesem Problem und diesem Phänomen umzugehen.
Kassel: Julia Gerlach war das, die Autorin der Studie "Auf dem Weg zu einem Europäischen Islam". Frau Gerlach, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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