Muskelspiele

Von Johannes Halder |
Michelangelo hat neben seinen weltberühmten Skulpturen, Fresken und Bauwerken auch eine große Zahl von Zeichnungen geschaffen, doch bei vielen ist die Autorenschaft umstritten. Anhand der hauseigenen Sammlung befasst sich das Frankfurter Städel Museum mit dieser Problematik.
Eine Versammlung grotesker Gestalten ist mit roter Kreide auf ein Blatt Papier gezeichnet: Zehn Köpfe, manche nur in Schemen angedeutet, darunter ein dämonisch schielender Satyr mit zotteligem Bart, die langen Ohren durch die Hörner gesteckt; daneben ein missmutig grimassierender Waldgeist mit Hängeohren, hinter ihm ein schafsköpfiges Gesicht, und rechts ein dicker nackter Mann mit Kropf.

Hässlichkeit als Programm. Die Phantasiegeburten sollten den Einfallsreichtum des Zeichners demonstrieren, seine Imaginationskraft. Auch die Rückseite ist mit Skizzen bedeckt, gutes Papier war damals kostbar: ein Ohr, ein Bein, zwei Augen und zwei Köpfe – Studien eben.

Man kann das Blatt betrachten und wenden wie man will – Martin Sonnabend, Kurator für Altmeisterzeichnungen des Museums, ist überzeugt davon: Michelangelo, der Meister, hat zumindest die Vorderseite eigenhändig gezeichnet, 1524 oder 25. Als das Blatt erworben wurde, im 19. Jahrhundert, hielt man es zunächst für echt. Später kamen Zweifel auf, man schrieb es wieder ab. Doch den Forscher ließ der Fall nicht in Ruhe.

Zwei Dutzend hochkarätige Zeichnungen hat er zusammengetragen, um seine These zu untermauern und Vergleiche anzustellen. Ein Blatt von Sebastiano del Piombo, dem Michelangelo gelegentlich beim Entwerfen behilflich war, vor allem gegen seinen Erzrivalen Raffael, Zeichnungen von Kopisten und Schülern, aber auch Michelangelo selbst ruft der Kurator in den Zeugenstand.

"Da gibt es vergleichbare Blätter in der Ausstellung aus dem British Museum und aus Windsor, die sehr ähnliche Köpfe zeigen, aber viel virtuoser gezeichnet sind. Wenn man die so miteinander vergleicht, dann kommt man sehr schnell auf den Gedanken zu sagen: Okay, das eine ist Michelangelo, und das hier hat jemand nachgemacht."

Die Beweisführung des Kurators ist komplex und teilweise gewagt und zerstreut die Zweifel schließlich mit dem einen Satz:

"Was letzten Endes entscheidet über die Frage, ob etwas eigenhändig ist oder nicht, das ist die Qualität der Zeichnung."

Nun gut, Michelangelo hat viel gezeichnet: schnelle Skizzen und ausgefeilte Meisterstücke, Kopien, beiläufige Anweisungen und minuziöse Vorlagen für seine Fresken. Er zeichnet Köpfe, Körper, Gesichter mit idealen Profilen, und vor allem Figurenstudien, das plastische Spiel von Muskeln, Sehnen, Haut und Knochen, den ganzen anatomischen Apparat. Und manchmal zeichnet er für seine Schüler.

"Da zeichnet er ihnen meinetwegen einen Kopf, und die müssen es nachzeichnen. Das sind sehr interessante Blätter, weil man auf denen verschiedene Hände auseinander halten kann. Und dann sieht man, dass das eine der eine gezeichnet hat und das andere der andere gezeichnet hat. Und die Frage ist dann: Wer war wer?"

Um dem wahren Autor auf die Spur zu kommen, halten sich die Forscher auch an die Handschrift des Künstlers. Doch die Methode hat ihre Tücken:

"Es gibt von Michelangelo über 1000 erhaltene Briefe. Sehr interessant. Und auf vielen Blättern findet sich seine Handschrift. Das ist zum Beispiel so ein äußeres Merkmal, um Blätter mit ihm in Verbindung zu bringen. Das heißt dann immer noch nicht, dass die Zeichnung, die auf dem Blatt Papier ist, auch von ihm ist. Sie könnte ja auch von einem Schüler sein oder von einem Werkstattangehörigen."

Zwei dieser Briefe sind hier ausgestellt.

"Der eine Brief ist eine kurze Note an einen seiner Hausdiener, in dem er beiläufig darauf hinweist, der Hausdiener soll schön viel zeichnen. Also Michelangelo hatte eigentlich keine richtigen Schüler. Er hat seinen Haushalt gehabt, und in dem Haushalt gab es junge Männer, die haben ihn bedient. Also die haben Einkäufe gemacht, sie haben das Haushaltsbuch geführt, die haben Botengänge unternommen und dergleichen mehr. Und die bekamen, zumindest zum Teil, zeitweise von ihm Zeichenunterricht."

Die meisten seiner Zeichnungen hat Michelangelo kurz vor seinem Tod vernichtet, vermutlich, weil er nicht wollte, dass Konkurrenten von seinen Fähigkeiten profitierten, vielleicht auch deshalb, weil der misstrauische Greis verbergen wollte, unter welchen Mühen und Studien sein geniales Werk zustande kam. Was übrig blieb, ist nicht sehr viel und sorgt bis heute für Expertenstreit, zumal der Künstler keines seiner Blätter je signierte.

"Die einen Wissenschaftler umreißen das gezeichnete Werk von Michelangelo mit mehreren hundert Blättern, bis zu sechshundert Blätter; und dann gibt es andere Extrempositionen, die höchstens vierzig erhaltene Zeichnungen von ihm anerkennen."

Jetzt also soll auch noch das Frankfurter Blatt dazugehören. Widerspruch gilt als sicher. Doch die Schau versteht sich nicht als Stellung im endlosen Lagerkampf der Gelehrten, betont Martin Sonnabend:

"Wenn jetzt die Arbeit an dem Blatt in den letzten anderthalb Jahren dazu geführt hätte, zu sagen: nein, es ist eine Schülerarbeit, wäre es auch in Ordnung. Weil, wir würden dann zeigen, was sind die Argumente dafür, dass es nicht Michelangelo sein kann."

Dem Vorwurf, er wolle seinem Museum einen echten Michelangelo herbeireden, muss sich der Kurator freilich stellen. Doch die ehrgeizigen Muskelspiele der Michelangelo-Experten mögen den Besucher kalt lassen, den derlei Debatten ohnehin überfordern. Und gleichwohl ist die Schau auch für den Laienforscher nicht ganz ohne Reiz.

"Es ist teilweise detektivisch, was man da entdecken kann. Aber es geht natürlich nicht darum, jetzt alle Besucher zu Michelangelo-Experten zu machen. Es geht um das Seherlebnis, das hier möglich ist, und wenn sie nicht von Michelangelo sind – es sind großartige Zeichnungen einfach."

Service: Die Ausstellung "Michelangelo. Zeichnungen und Zuschreibungen" ist bis zum 7. Juni 2009 im Frankfurter Städel Museum zu sehen.