Musizieren unter der Reichstagskuppel

Von Jörg Oberwittler · 09.07.2010
Bekannt ist der Bundestag als Ort großer Reden und Wortgefechte - dass er auch ein Ort des Gesanges ist, wissen allerdings die Wenigsten. Im "Chor des Deutschen Bundestages" singen Mitarbeiter aus der Verwaltung, Abgeordnete und Angestellte der Fraktionen gemeinsam und über alle Parteigrenzen hinweg.
"Also Demokratie ist hier im Chor nicht. Das geht auch hier gar nicht. Das wird alles schon bestimmt."

"Da wird auch unser Chorleiter drauf achten, dass wir die entsprechende Qualität auch bringen. Gerade im Hinblick auf die Auftritte ist er da immer sehr pingelig. Und da wird also jedes 'μ' noch nachjustiert."

"Sie haben eine Pause. Drei Dinge zu denken – zuerst: Muss ich vernünftig und ohne Panik einatmen."

Im Chor des Deutschen Bundestages mag es zuweilen undemokratisch zugehen - aber der Humor kommt bei Chorleiter Zarko Bulajic nie zu kurz.

"Stellen Sie vor: Romeo und Julia. Ja? Und jetzt Romeo muss etwas unten darstellen. Und natürlich; der ist aufgeregt. Nicht gesehen zu werden von Rest des Families. Da muss er schnell handeln. Nein! Der war mit Liebe inspiriert. Wenn der gesagt hätte: Juliett!. Dann kriegt der Wasser auf den Kopf. Im besten Fall!"

Auf dem Programm stehen Frühlingslieder von Felix Mendelssohn Bartholdy. Immer wieder springt der Chorleiter vom Konzertflügel auf, rennt nach vorne, korrigiert penibel Betonung, Tempus und Aussprache. Ein groß gewachsener, stämmiger Mann mit dunklen Haaren, südeuropäischem Temperament und ganz viel Leidenschaft für klassische Musik.

An diesem Mittwochabend bleiben einige schwarze Lederstühle in dem Proberaum nahe dem Reichstagsgebäude leer. Es gibt viel zu tun: Die Wahl des Bundespräsidenten muss organisiert werden. Von den dreißig Mitgliedern ist daher nur gut die Hälfte gekommen. Darunter lediglich vier Männer.

Obwohl sich der Chor ursprünglich als "Männer-Ensemble" gegründet hat, damals, 1951 in Bonn. Fast vierzig Jahre wurde fröhlich gesungen - dann war Schluss, wie Zarko Bulajic erfuhr, als er im Bundestag anfing.

"Wie, gab's einen Chor? Wo ist denn der jetzt? Nun ja, der Chor ist irgendwie eingeschlafen, ist nicht so viel Interessenten beziehungsweise steht auch Umzug bevor."

Einzig ein altes Klavier zeugte von den großen Zeiten des Chores, der bei Anlässen wie Volkstrauertagen oder Jubiläen auftrat. Und als die Regierung 1999 von Bonn nach Berlin umzog, stellten die Möbelpacker das Klavier bei Zarko Bulajic vor die Tür. Der hatte eigentlich mal in Belgrad Musik und Gesang studiert. Nun arbeitet er bei der Kleiderkammer des Bundestages, die die Dienstkleidung der Angestellten reinigt und aufbewahrt.

Und nebenbei rief er 2001 den Chor wieder ins Leben. Für Männer und Frauen. Referatsleiter, Sekretärinnen und Verwaltungsfachangestellte singen Stücke aus Wagners "Tannhäuser", Verdis "La Traviata" oder auch mal einen leichtfüßigen Filmsong. Bekannte Gesichter sind nicht dabei. Den Abgeordneten fehlt in der Regel die Zeit für die Proben. Mit einer Ausnahme: Stephan Hilsberg aus Brandenburg.

"Man ist natürlich als Abgeordneter sozusagen das Maskottchen des Chores. Ein Chor, der Bundestagschor heißt und wenigstens einen Abgeordneten hat, und der kommt zum Chor. Die fühlten sich alle extrem selig. Ich bin sehr gut aufgenommen und es hat von Anfang an großen Spaß gemacht. Und deshalb soll ich hier auch ein Interview geben."

Inzwischen hat der 54-Jährige sein Mandat abgegeben und mehr Zeit für die Proben, die selbstredend nach Dienstschluss stattfinden. Fleißig üben die Sänger für das Sommer- oder Winterkonzert am Ende der jeweiligen Sitzungsperiode. Dann stimmen sie vor der Kantine des Bundestages die Zuhörer auf die sitzungsfreie Zeit ein. Dreimal trat der Chor auch im Fernsehen auf. Unvergesslicher Höhepunkt war aber ein Konzert im Plenarsaal bei einer Festveranstaltung ehemaliger Parlamentarier - auf der Regierungsbank, wie sich Dagmar Linnemann-Gädke aus dem Vorstand erinnert:

"Ich war Herr Steinbrück, glaub ich, auf dem Stuhl. Es hat schon was. Da kommt man ja sonst nie rein. Wir haben ja sonst nie ne Chance, im Plenarsaal irgendwo zu sitzen."

Sie alle mögen, schätzen und achten ihren Chorleiter, der trotz allem Ehrgeiz, das Haus angemessen zu repräsentieren, immer sympathisch wirkt. Und der es sich nicht nehmen lässt, am Ende einen Vorgeschmack auf das geplante Konzert zu geben. Dafür geht es runter ins Foyer - da ist die Akustik besser.

"Ich bin wirklich stolz auf alle, wenn die in erster Linie auch mich vertragen können."

Mit dem Konzert hat es dann doch noch am Ende geklappt. Wegen der Bundespräsidentenwahl konnten sie nicht genügend proben. In Gedanken sind die Mitglieder allerdings schon beim nächsten Jahr, dann wird der Chor zehn Jahre alt.

"Dein Wunsch ist es, nächstes Jahr ein Jubiläum zu feiern."

"Das ist vielleicht unsere Wunsch, oder?"

"Ja, unser aller Wunsch!"

Einige Ideen haben sie schon im Kopf - damit sich der Bundestagschor noch weiter herumspricht. Und vielleicht doch noch die ein oder andere Männerstimme bekommt.


Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC) stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.