Musiktradition versus Gerechtigkeit

Mädchen in den Knabenchor?

Gruppenbild des Thomaner-Chors vor dem Altar der Leipziger Thomaskirche
Der Thomanerchor besteht seit über 800 Jahren und war immer mit Knabenstimmen besetzt. © dpa / picture alliance / Peter Endig
Ein Streitgespräch zwischen Susann Bräcklein und Ann-Christine Mecke · 18.12.2018
Knabenchöre gibt es seit vielen Jahrhunderten in ganz Europa. Nach wie vor werden nur Jungs aufgenommen. Aber ist diese Tradition aufrecht zu erhalten?
Weihnachtszeit ist Hochfrequenzzeit für die Knabenchöre weltweit. Ihre Konzerte sind meistens ausverkauft. Aber wieso sollten nur Jungs in den Chören mitsingen dürfen? Das ist ungerecht, meint die Juristin Susann Bräcklein. Das gehört zu unserer musikalischen Tradition, entgegnet die Musikwissenschaftlerin Dr. Ann-Christine Mecke. Ein Streitgespräch auf Deutschlandfunk Kultur.

Position für die Mädchen

Die Berliner Juristin Susann Bräcklein interessiert sich gerade für einige Fälle, bei denen Mädchen z. B. in den Thomanerchor wollten und abgelehnt wurden. Rechtlich ist das schwierig, weil die Jungschöre oft öffentlich geförderte Institutionen sind. Sie sind in Deutschland eine der letzten Institutionen, wo es keine Gleichberechtigung gibt.

Position für die Jungs

Expertise aus vielen Ländern bringt Musikwissenschaftlerin Ann-Christine Mecke ein. Sie ist überzeugt: ein reiner Knabenchor hat seinen eigenen Klang.
Juristin Susann Bräcklein verweist an erster Stelle auf die im Grundgesetz verankerte Gleichberechtigung. "Und bei renommierten Knabenchören erfolgt der Ausschluss von Mädchen allein wegen des Geschlechts. Das heißt, es geht noch ein bisschen weiter: Es handelt sich um eine Diskriminierung nach Artikel 3, Absatz 3, wegen des Geschlechts."
Der Chorleiter Monsignore Georg Ratzinger dirigiert die Domspatzen vor dem Dom in Regensburg am 09.04.1976.
Die Regensburger Domspatzen mit Georg Ratzinger. Ein Chor, der seit dem achten Jahrhundert ausschließlich mit Knabenstimmen besetzt ist.© dpa/picture alliance/Hartmut Reeh
"Die Schwierigkeiten besteht einerseits darin, dass die Chöre eine Institution der Ausbildung sind. Hier möchte man einen gleichberechtigten Zugang ermöglichen", entgegenet Mecke. Auf der anderen Seite seien die Chöre, wenn sie gut sind, eine Art musikalisches Instrument. "Und es gibt Musik, die für diese Knabenchöre komponiert wurde. Und es gibt Musik, wenn auch deutlich weniger, die spezifisch für Mädchenchöre entstanden ist."

Keine Gemeinnützigkeit bei Diskriminierung

Hier entstünde nun die Schwierigkeit, so die Musikwissenschaftlerin, dass bei Bewegungen, die sich dem Originalklang verschrieben haben, nun die Forderung bekräftigt würde: dieses Instrument, das der Komponist so eingesetzt hat, sei nur durch Knabenchöre zu erzeugen.
Juristin Bräcklein entgegnet: "Der Bundesfinanzhof hat in diesem Jahr entschieden, dass zum Beispiel der Freimaurer-Loge die Gemeinnützigkeit aberkannt wurde, weil Frauen ausgeschlossen sind. Und die Richter formulierten explizit, dass dieses Urteil auch in die Bereiche von Herrengesangs- und Schützenvereinen gilt. Soweit müsste dieses Urteil auch auf Knabenchöre angewendet werden."
Gustavo Dudamel bei der Probe zum Neujahrskonzert der Wienerphilharmoniker am 29.12.2016.
Gustavo Dudamel bei der Probe zum Neujahrskonzert der Wienerphilharmoniker am 29.12.2016. Frauen sind nach langer Zeit in der ehemaligen Männerdomäne zugelassen.© picture alliance / Florian Wieser/EPA/dpa
Argumente, dass Mädchen in anderen Chören sich entfalten könnten, lässt sie nicht gelten, denn wie viele Berufsgruppen waren den Männern für viele Jahrhunderte vorbehalten und die Frauen ausgeschlossen. Inzwischen seien Frauen als Soldat oder als Polizist etabliert. Und so wirft sie die Frage auf: "Warum sollte das für einen Thomanerchor nicht gelten?"
Um die Einmaligkeit des Klanges nachzuweisen, war auch Mecke an Experimenten beteiligt, in denen Testhörer befragt wurden. "Die Ergebnisse sprechen dafür, dass Hörerinnen und Hörer den Klang unterscheiden können. Es gibt signifikant hörbare Unterschiede im vierten Formanten - einem Frequenzbereich, der im Gesang besonders stark wahrgenommen wird."

Der Unterschied bliebe auch dann hörbar, wenn die Kinderstimmen im gleichen Stil "erzogen" worden seien, bringt Mecke an. Dem entgegnet die Juristin Bräcklein: Die Erkennbarkeit sei zu subtil. Diese würde dem juristischen Begriff von 'zwingenden Gründen' wahrscheinlich nicht standhalten. "Rechtlich müsste man darlegen, dass Mädchen den Knabenchor verunstalten würden. Und das hat noch keiner nachgewiesen."
Der Mädchenchor Hannover
Gegenfrage: Sollte sich dann der "Mädchenchor Hannover" auch für Jungs öffnen?© Wolfgang Schweden/Mädchenchor Hannover
"Subtile Unterschiede sind in der Kunst maßgebend", widerspricht die Musikwissenschaftlerin. Dieses Urteil möge nicht im Durchschnittshörer-Ohr liegen, sondern sei eine reine Expertensache. Daraufhin erhebt sie den Vergleich der Stimmunterschiede beim Verwenden einer Barockoboe und einer modernen Oboe. "Es gibt musikalische Zusammenhänge, wo die Verwendung des speziellen Instrumentes entscheidend sein kann."
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