Musikfestival Berlin Atonal 2017

Flirt von Stockhausen und Fernsehmusik

Das Berlin Atonal Festival 2014 im Kraftwerk
Das Berlin Atonal Festival - Festival für Experimente in Ton und Licht - wurde 1982 in Berlin gegründet. © imago / Votos-Roland Owsnitzki
Von Tobi Müller · 17.08.2017
Berlin Atonal ist ein fünftägiges Musikfestival zwischen schroffem Krach und Wohlfühlwolken, das historische Avantgarde und Techno verbindet, stets vor dem Hintergrund von Berlin als Hauptstadt der elektronischen Musik. Eine Bilanz nach zwei Nächten.
Scheinwerfer blenden die Besucher beim Eintritt in die postindustrielle Betonkirche. Im ehemaligen Heizkraftwerk Mitte in Berlin ist der Club Tresor beheimatet, der an einem anderen Ort in der Stadt prägend war für die Nachwendezeit und den Import von Detroit Techno in das frisch vereinigte Berlin. Darauf fonnte sich die Jugend in Ost wie in West gleichermaßen einigen, und noch auf die intellektuell stets notgeile Volksbühne von Frank Castorf. Tanzen und denken, Sex und lustvoller Streit: Ja, so war das, liebe Kinder! Klar kommt da bei einigen Nostalgie auf und der Schmerz nach der verlorenen Jugend meldet sich nicht nur im Rücken, wenn man erstmal neun Stunden sitzlos rumsteht am Eröffnungsabend von Berlin Atonal in den Hallen des Heizkraftwerks.

Zur Eröffnung Stockhausens "Oktophonie"

Die Nostalgie der elektronischen Clubmusik nach den radikalen Vätern oder Großvätern, die Mütter werden endlich auch entdeckt, ist nicht neu. Karlheinz Stockhausen als Ahne des großen Vierviertelrumms, das Studio 1 des Westdeutschen Rundfunks in Köln als Wiege der Berliner After-Hour-Kultur? Man braucht ein bisschen Zeit, diesen Stammbaum sauber zu erklären, es wird oft versucht, andere Festivals behaupten das auch. Es spricht das eine oder andere dafür. Vieles aber nicht.
Stockhausens "Oktophonie" (1991), die zur Eröffnung aus den Maschinen vor der Main Stage drang, wird in so einer Betonkathedrale doppelt heilig. Man spürt die Unterschiede zwischen den europäischen Vorvätern und der globalen Produzentenriegen überdeutlich. Papi hatte Partitur und brauchte bestuhlte Ruhe. Die Kinder brauchen derweil Bewegung und buchstabieren das eher als "Partytour".
Die Praxis ist natürlich vielschichtiger. Die alten Herren des BBC Radiophonic Workshop, die ab den Sechzigern bis Ende Neunziger elektronische Musik für populäre Hörspiele und Fernsehserien komponierten, zeigten schon am ersten Abend mit komischen Sounds und schön ruckelnden Synthiebässen, dass Techno nicht zuallererst auf akademische Musik zurückgeht. Die rüstigen Elektroveteranen erinnerten, mit entwaffnender englischer Freundlichkeit, an die süßen Freiheiten, die sie als junge Musiker beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk hatten. Alte Redakteure saßen sehr lange beim Mittagessen und ließen den Jungen derweil eine lange Leine, auch etwa Monty Python wurden nur so möglich.

Überzeugend: Rashad Becker und Demdike Stare

Erstaunlich schien im Folgenden, wie viele der gezeigten jüngeren Künstlerninen und Künstler wieder auf eine sehr ernste Anmutung zurückgreifen. Sehr vieles waberte dräuend, wollte überwältigen, wirkte aber vor alllem dekorativ in all seiner polierten Dunkelheit (etwa Schaun Baron Carvais, auch als Shlomo bekannt oder die beiden Frauen von LCC). Rashad Becker wusste dagegen die avancierten Lautsprecheranlagen, den Surround-Sound und somit auch die Halle zu nutzen. Das waren nicht nur Wellen und Weiten und Melancholie, die gut gebettete Kreativseelen wuschen. Bei Becker klackerte es, rauschte, klöppelte, rummste, meistens gleichzeitig: Das Ohr musste der Musik folgen – heiter, zwanglos.
Es sind auch Raumfragen, die sich stellen. Becker stand beim Mischpult, ohne erhöhte Bühne. Das verhindert die doppelte Sakralität, die da sonst ensteht: heilige Musik plus heiliger Raum. Ich denke mal, dass die meisten der schick schwarz gekleideten und äußerst mehrsprachigen Besucherinnen und Besucher des ausverkauften Festivals aus der Kirche ausgetreten sind. Im viel kleineren Club Ohm, im Erdgeschoss des Heizkomplexes, passte das für die meiste Musik viel besser. Fliesen wie in einer Fleischerei, der Tresen so groß wie die Tanzfläche – hier lässt sich nicht abschweifen ins Ungefähre. Das Duo Demdike Stare aus Manchester führte in ihrem Set vor, wie man interessante, sogar polyrhythmische Clubmusik macht, die den ganzen Körper fordert: den Kopf, die Füße, und ja: den Hintern.
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