Musikalische Palindrome

Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie. Dieser (politisch inzwischen nicht mehr korrekte) Ausspruch zeigt gleichwohl an, worum es im heutigen Konzert geht: Um Palindrome, um Äußerungen, die - mit Kurt Schwitters gesprochen - "von hinten wie von vorne A - N - N - A" ergeben. Auch und gerade in der Musik!
Der Komponist und Pianist Steffen Schleiermacher präsentiert mit dem Ensemble Avantgarde im Leipziger Gewandhaus ein Programm, das es in sich hat. Genauer gesagt: das eine Spiegelachse in sich hat. Denn so, wie sich dieses Programm musikalischen Palindromen widmet, ist es auch selbst als Palindrom gebaut: Es beginnt mit Ligeti, Hindemith und Scelsi und endet mit Scelsi, Hindemith und Ligeti. In der Mitte, gleichsam als geistige Spiegelachse, findet sich das vielleicht älteste musikalische Palindrom – das programmatisch betitelte Vokalstück "Ma fin est mon commencement" ("Mein Ende ist mein Anfang") des Guillaume de Machaut aus dem 14. Jahrhundert.

Das Wort Palindrom kommt aus dem Griechischen und bedeutet "rückwärts laufend". Es ist ein abstraktes Prinzip, das in der Konkretion der Sprache meist zu Nonsens führt oder zu Worten, die in Internet-Foren diskutiert werden, wie das finnische Wort für Seifensteinverkäufer (Saippuakivikauppias). In der weitaus abstrakteren Kunst der Musik wiederum wirkt das Palindrom auf subtilere Weise und hat an der Schnittstelle von konstruktiver Dichte und bizarrem Humor schon manches Meisterwerk hevorgebracht.

Ein Konzertprogramm als Gesamtkunstwerk – konzipiert, geleitet, gespielt und moderiert von Steffen Schleiermacher, einem unerschütterlichen Pfeiler der Gegenwartsmusik. Oder, palindromisch gesprochen: einem Reliefpfeiler.


Gewandhaus zu Leipzig, Mendelssohn-Saal
Aufzeichnung vom 8.6.11

"Palindrome"

György Ligeti
Vorspiel zur Oper "Le Grand Macabre" für zwölf Autohupen
Paul Hindemith
Präludium aus "Ludus tonalis" für Klavier

Giacinto Scelsi
"Hyxos" für Flöte und Schlagzeug

Anton Webern
Variationen für Klavier op. 27

George Crumb
4. Madrigalbuch für Stimme und vier Instrumente

Steffen Schleiermacher
"Lîla" für Klavier

Guillaume de Machaut
Rondeau "Ma fin est mon commencement"
für Sopran und Ensemble gesetzt von Steffen Schleiermacher

Giacinto Scelsi
"Dithome" aus "Trilogia. Die drei Lebensalter des Menschen"
für Violoncello solo

Paul Hindemith
Postludium aus "Ludus tonalis" für Klavier

György Ligeti
Vorspiel zur Oper "Le Grand Macabre" für zwölf Autohupen


Olivia Stahn, Sopran
Christian Giger, Violoncello
Ensemble Avantgarde
Leitung, Klavier und Moderation: Steffen Schleiermacher