Musikalisch top, szenisch flop

Moderation: Eckhart Roelcke |
Mit der Aufführung der "Götterdämmerung" ist die Premiere des "Ring des Nibelungen" von Richard Wagner in Bayreuth vollendet worden. Musikwissenschaftler Holger Noltze und Deutschlandfunk-Literaturredakteur Christoph Schmitz loben vor allem die musikalische Leistung unter dem Dirigenten Christian Thielemann. Das von Regisseur Tankred Dorst beabsichtigte Ineinandergreifen von Gegenwartswelt und Mythos sei dagegen nicht realisiert worden.
Roelcke: In den Feuilletons der vergangenen Tage ist der neue Bayreuther "Ring" nur auf Platz zwei gekommen. Platz eins belegten ganz klar Mozart und seine Interpreten, genauer gesagt, die Mozart-Aufführung bei den Salzburger Festspielen. "Die Hochzeit des Figaro" im Fernsehen, im Ersten, in der vergangenen Woche live übertragen. Das war ein Event, selbstverständlich auch wegen der Sopranistin Anna Netrebko. Und die Bayreuther Festspiele? "Verharmloste Helden langweilen sanft", schrieb die "Süddeutsche", nach der "Siegfried"-Premiere und die "FAZ" bemäkelte die bloß dekorativen Einfälle der Regie. Das klingt arg nach Mittelmaß. Bekanntlich sollte man den Tag nicht vor dem Abend loben und auch nicht schlecht reden. Erst gestern Abend wurde Wagners neuer "Ring des Nibelungen" mit der Premiere der "Götterdämmerung" nun vollendet und darüber möchte ich nun sprechen mit dem Musikwissenschaftler Prof. Holger Noltze von der Universität Dortmund und mit dem Literaturredakteur Christof Schmitz vom Deutschlandfunk.
Es ist ja schon fast ein Prinzip des Festspiel-Chefs, Wolfgang Wagner, Operndilettanten mit der Regie zu beauftragen – zum Beispiel Heiner Müller vor Jahren mit dem "Tristan". Christof Schlingensief mit dem "Parsifal" und in diesem Jahr den Dramatiker Tankred Dorst mit dem "Ring des Nibelungen". Herr Noltze, sind solche Besetzungsideen ein Trick, um die Festspiele ins Gerede zu bringen?

Noltze: Uns hat noch keiner gefragt, wollte ich gerade sagen. Wir sind ja auch alle potente Anfänger. Ich glaube, in dem Fall hatte Wolfgang Wagner überhaupt keine andere Chance, denn wir erinnern uns, dass ja Lars von Trier, der Filmregisseur, von dem wir hier sehr viel erwartet hätten, und da gibt es ja schon Aufzeichnungen, wo er ein sehr interessantes Konzept skizziert, der sollte es ja eigentlich machen. Er hat es zwei Jahre vorher zurückgegeben, weil da doch manches nicht zusammenfand. Und wer kann zwei Jahre vorher in so eine "Ring"-Regie einsteigen, der im Geschäft ist? So einfach muss man das mal strategisch sehen. Das heißt, er konnte nur jemanden fragen, der so ein bisschen drüber ist. Und insofern ist Tankred Dorst…

Roelcke: … eine Notlösung?

Noltze: Sicher von damals aus gesehen eine ganz probate Notlösung gewesen, aber keine glückliche.

Roelcke: Beklagt wurde neben den altbekannten Inszenierungsideen vor allem auch die mangelnde Personenregie. Die Sänger standen wohl oft direkt vorne an der Bühne, am Orchestergraben und sangen da frontal ins Publikum.

Noltze: Es ist eines der größeren Debakel von Inszenierungen, die ich hier erleben konnte. Es ist alles in einer relativ metierlosen Zentralperspektive aufgestellt. Keine Spannung zwischen den Figuren. Man weiß auch nicht, was er von ihnen will. Man weiß auch nicht, was dieser Wotan soll, der eigentlich gar keine Fallhöhe hat. Der jemand ist, der von vornherein als Poseur auftritt, relativ hohles Getön von sich gibt. Da ist kaum Entwicklung drin. Und ich meine, es geht auch ein bisschen um die Tragik dieses Wotan, der nicht so kann, wie er gerne möchte. "Siegfried" von vorne bis hinten ein Junge vom Dorf, ein Naivling, ein schlichter Charakter. Das hat vielleicht noch ein bisschen hier und da mal noch eine Kleinigkeit gebracht. Aber auch der ist letztlich nicht interessant. Dann gruppiert er diese Leute einfach immer so wie es gerade kommt auf. Es hat ja ein Sänger in der Lokalzeitung gesagt, es hat eigentlich niemand einem was gesagt, was passieren soll, und so haben sie sich denn offenbar hingestellt, wie man das immer macht.

Schmitz: Wobei, da muss ich Ihnen doch ein bisschen widersprechen, Herr Noltze.

Roelcke: Sehr schön.

Schmitz: Es gab doch eine ganz gute Entwicklung innerhalb des "Rings". Ich bin mit Ihnen überein, im "Rheingold" und auch in der "Walküre" war es ein Debakel nahezu. Die Schauspieler, die Darsteller wussten wirklich nicht, wo sie sich hinbewegen sollten, aber doch im "Siegfried" und auch in der "Götterdämmerung" gewinnt das etwas an Spannung, an Präzision. Es gibt eine gewisse Choreografie. Wobei ich auch sagen muss, er ist auf halbem Wege stehen geblieben. Da muss man natürlich auch sagen, was Sie anfangs auch andeuteten und sagten, er hat nur zwei Jahre Zeit gehabt. Und für diese Regie, für dieses 16-Stunden-Werk braucht man mehr als zwei Jahre, um die Personenführung choreografisch-inspiriert, perfekt hinzubekommen.

Noltze: Ja, nun behauptet Tankred Dorst, er hätte 80 Prozent realisiert, und ich behaupte, wenn er noch 20 Prozent mehr realisiert, sind wir immer noch nicht im Standardbereich. Wir sind immer noch im Substandard dessen, was inszenatorisch nicht nur möglich, sondern auch nötig ist.

Schmitz: Er hat aber auch keine 80 Prozent geliefert. Das ist von ihm einfach etwas schön geredet. Ich glaube, er hat 20 Prozent geliefert und 80 Prozent wären noch zu liefern.

Roelcke: Herr Noltze, Herr Schmitz, wir könnten das auch ganz kurz weiterdrehen, dieses Thema. Bayreuth wird ja immer als Werkstatt bezeichnet. Das bedeutet, die Werke können in den folgenden Jahren weiterentwickelt werden. Kann man denn diesen "Ring" szenisch weiterentwickeln?

Schmitz: Das darf ich, glaube ich, verneinen. Ich habe das Gefühl, dass das Konzept gut ist, dass die Idee, den Mythos zur Geltung kommen zu lassen und das Werk nicht politisch zu deuten und den Mythos an die Peripherien unserer Gegenwart zu legen – unter eine Autobahnbrücke, am Stadtrand einer Mega-City, dass das sehr gut ist. Das Problem ist nur, dass die Gegenwartswelt von der mythischen Welt des "Rings" nicht inspiriert wird. Sie strahlt nicht ab. Und dieser Gedanke, dass Gegenwart und Mythos aufeinander abstrahlen, aufeinander wirken, ist zwar angelegt, aber ist auch in der "Götterdämmerung" an keinem Punkt realisiert worden. Insofern, glaube ich, müsste man das Ganze neu inszenieren und eine Werkstatt wird da auch nichts bringen.

Noltze: Dem Kollegen Schmitz ist gerade das schöne Wort vom unpolitischen "Ring" einfach so über die Lippen gegangen. Das hat ja auch Christian Thielemann gesagt, endlich mal ein Wotan ohne Aktentasche, also ein unpolitischer "Ring". Ich sage auch ein Wotan ohne Aktentasche, er hat tatsächlich keine, er ist ein Gott, der wie ein Außerirdischer in dieser Gegenwartswelt gelandet ist, ist natürlich kein unpolitischer Wotan. Dieses Stück ist eines der politischsten. Man kann es gar nicht unpolitisch machen. Und meine Zweifel, ob man das weiterentwickeln kann, liegen tatsächlich auch schon im Konzept. Denn man kann sagen, wir lassen diese beiden Schichten, das Mythische und das Gegenwärtige sich durchdringen, nur dann müsste man es sehr viel konsequenter tun, und dann bricht sich das alles wie gestern Abend in der "Götterdämmerung", weil er nämlich eine dritte Zeitschicht einführt, also die Gibichungenhalle, diese dekadente Welt, wird gezeigt in einer Architektur, die so ein bisschen in den italienischen Faschismus weist. Danunzio, das hat Tankred Dorst auch in einem Werkstattbuch so angegeben, da soll es hinführen. Man fragt sich, was soll das jetzt? Und was machen die Gegenwartsmenschen und die Götter jetzt nun wiederum in dieser Welt?

Roelcke: Herr Noltze, Herr Schmitz, die Zeit läuft uns etwas davon. Wir sollten natürlich bei einem solchen musikalischen Ereignis auch über die Musik sprechen. Wir hatten schon erwähnt, Christian Thielemann, er hat ja in den letzten Jahren lange an seinem Ruf gearbeitet ein bedeutender Wagner-Dirigent zu sein. Wagner geht ihm über alles. Hat das Früchte getragen?

Schmitz: Ich denke schon. Er fächert auf ganz wunderliche, transparente Weise diesen großen Orchesterklang aus. Er geht sehr in die Vertikale, also er beobachtet, was im Augenblick geschieht, fächert das Klangspektrum auf, vergisst aber dabei nicht den großen dramatischen Bogen. Er kann sehr leise werden, verkriecht sich aber nicht. Er kann ungeheuer laut werden und pompös und auch pathetisch, ohne wagnerisch dick aufzutragen.

Noltze: Es geht die Rede, dass er bei den Proben ein T-Shirt anhatte, wo Mendelssohn drauf abgebildet war, also sozusagen der andere, der Nicht-Wagner. Und er hätte so darauf gezeigt und hätte gesagt: Da, Jungs, da soll es langgehen.
Und wenn Sie jetzt ein Stückchen von der Rheinfahrt hören, dann können Sie hören, wie fein er gearbeitet hat. Was für einen feinen Faden er spinnt und daran zieht er dann die ganzen mächtigen Motive auch hoch.

Roelcke: : Herr Schmitz, Sie haben gesagt, Thielemann legt das musikalisch etwas breit an. Thielemann wird ja dann immer auch mal vorgeworfen, er konzentriere sich zu sehr auf die schönen Stellen und vergesse darüber dann die große Linie. Haben Sie das vielleicht auch so etwas empfunden?

Schmitz: Nein, nein, das meinte ich ja vorhin, dass er die Vertikale im Blick hat und die ausschmückt und sich darin ergießt, aber ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren. Es gibt riesige lange Spannungsbögen, die er sehr schön aufbaut bis zu einem Fortissimo. Und der Vorwurf, der ihm gemacht worden ist, finde ich, der trifft nicht zu.

Noltze: Gestern Abend hat er ein bisschen, diese kleine Wermutsträne muss ich noch eingießen, gestern hat er ein bisschen zu alten Unarten gefunden, als dann bei Siegfrieds Trauermarsch er dann doch ein wahnsinniges Retardando da reingesetzt hat, und das dann doch wieder sehr wuchtig wurde.

Schmitz: Ja, aber darf ich gerade da noch etwas einfügen. Das ist insofern sinnvoll, weil die Tiefe des Mythos von Inszenierung ja nicht geliefert wird. Das heißt, er muss das ausfüllen, was nicht sichtbar ist.

Roelcke: Herr Noltze, Herr Schmitz, wir sollten über die Sänger sprechen. Der "Ring des Nibelungen", natürlich ein riesiges Werk, das ohne Sänger, ohne eine hervorragende Sängerleistung natürlich auch durchfallen würde. Wie wurde gesungen in Bayreuth?

Noltze: Hm, ja jetzt sitzen wir hier. Also, über den Siegfried muss man was sagen. Er ist Siegfried-Debütant. Wir haben ihn hier als Tannhäuser gehört. Das ist glücklicher ausgegangen im Großen und Ganzen. Steven Gold hat einen ganz schön baritonal gefärbten Ton. Das Problem ist, er hat mehrere solcher Töne, und je nachdem, in welche Lage er kommt, benutzt er den einen oder den anderen. Also keine einheitliche Leistung. Das Problem ist auch, dass man kein einziges Wort versteht, was in diesem Stück ein Problem ist. Dann haben wir Linda Watson, als Brünnhilde, die hier als Kundri bekannt ist, als Ortrud. Mein Eindruck war gestern, sie singt gar nicht Brünnhilde, sie singt Ortrud, also mit sehr großem Ton, mit sehr starkem Vibrator, mit einer gewissen Schärfe. Auch da ist wenig vom Ton zu spüren, und sie macht insgesamt einen etwas, pardon, ältlichen Eindruck, was bei der Brünnhilde nicht günstig ist.

Roelcke: Gab es denn auch eine herausragende Leistung?

Schmitz: Die Nebenrollen waren eher herausragend – etwa die Waltraute der Japanerin Mihoko Fujimura war sehr gut. Auch Hagen war ein großer Hagen, Hans-Peter König. Besonders schön war in der "Walküre" eigentlich Adrianne Pieczonka, und die hören wir auch in ihrem Liebesduett

Roelcke: Ja, Herr Noltze, Herr Schmitz, wenn man jetzt das, was Sie erlebt haben im "Ring des Nibelungen" mit einem Satz überschreiben könnte, schlagwortartig. Könnte man sagen, szenisch ein Flop, musikalisch top?

Schmitz: Sofern man die Sänger ausnimmt ist es musikalisch top.

Noltze: Ja, unten pfui oben hui…nein, umgekehrt unten hui, oben pfui.

Roelcke: Unten meinen Sie im Orchestergraben?

Noltze: Unten im Orchestergraben, Orchester war der Star und zu Recht wurde Christian Thielemann gestern hier sehr gefeiert und Tankred Dorst hat doch eine ganz schöne Buh-Dusche abgekriegt. Das hätte man gar nicht erwartet, weil er doch ein würdiger, älterer Herr ist. Er hätte es einfach nicht tun dürfen.

Roelcke: Der Musikwissenschaftler Holger Noltze von der Universität Dortmund und der Deutschlandfunk Literaturredakteur Christoph Schmitz im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur.
Mehr zum Thema