"Musik wurde zu meiner Sprache"

Von Tobias Wenzel · 15.04.2010
Sie bewegt sich in einer der letzten Männerdomänen: die Estin Anu Tali. Sie ist Dirigentin. Mit Mitte 20 leitete sie schon etliche Orchester in Estland und gilt mittlerweile im Land als feste Kulturgröße. Zurzeit gastiert sie in Magdeburg.
"Obwohl ich in Tallinn geboren wurde, bin ich ein Landtyp. Ich liebe die Geräusche der Natur und hänge schon fast von ihnen ab: das Meer und die tiefe Stille des Waldes, die nie eine Generalpause ist, sondern immer Informationen und Musik in sich trägt."

Man könnte Anu Tali, diese zierliche Person, die ihre schwarze Strickmütze tief ins Gesicht gezogen hat, für eine Konzertbesucherin halten, die aus Versehen den Personaleingang genommen hat. Aber die 37-Jährige ist eine angesehene Dirigentin in diesem Haus, hat selbst international auf sich aufmerksam gemacht und ist in Estland eine feste Kulturgröße. Ganz besonders hier im Konzert- und Opernhaus Tallinn.

Anu Tali öffnet die Tür zu einem kleinen Probenraum, legt Mantel und Mütze ab. Ihre hellblonden Haare kommen zum Vorschein. Die geschwungenen Augenbrauen, die wachen Augen, die kleine Nase verleihen der Dirigentin etwas Spitzbübisches. Anu Tali setzt sich auf einen Stuhl neben den schwarzen Flügel:

"Als ich sieben war und meine Eltern mich und meine Zwillingsschwester Kadri bei der Musikschule anmeldeten, war das ganz unspektakulär. Eben wie bei jedem Kind, das Klavierunterricht bekommt. Aber mit 14 Jahren habe ich mir meinen Finger gebrochen. Und da wollte ich dann unbedingt Klavier spielen, weil ich es eben nicht mehr konnte. Später dann, mit 17, 18 Jahren wurde die Musik zu meiner Sprache und zu meiner persönlichen Angelegenheit. Das begann mit der Liebe zur russischen Musik."

1991 begannen die Zwillingsschwestern Anu und Kadri gemeinsam ein Studium an der Musikhochschule in Tallinn: in den Fächern Dirigieren und Klavier. Heute ist Anu Tali Dirigentin und ihre Schwester ihre Managerin.

"Ich glaube, dass es wichtig ist, dass Eltern ihre Zwillingskinder frühzeitig ein wenig trennen, damit sie nicht zu sehr voneinander abhängen und sich gegenseitig hemmen. Trotzdem ist meine Schwester Kadri meine Managerin, meine erste Kritikerin und meine beste Freundin. Aber unsere Freunde sagen, es sei schwer, uns zusammenarbeiten zu sehen, weil die Zusammenarbeit äußerst explosiv ist, aber auch sehr effizient und schnell. Ich sag es mal so: Wir diskutieren schon richtig stark."

Mit dem schelmischen Grinsen verrät Anu Tali, welche Bedeutung hier das Wort diskutieren hat. 1997 gründeten die beiden Zwillingsschwestern das Nordic Symphony Orchestra. Das umfasst Musiker aus 15 Nationen. Anu Tali dirigiert es.

Zuletzt stand die Sechste Symphonie von Tschaikowsky auf dem Programm, dieses tief melancholische, von Trauer geprägte Werk. Die Traurigkeit nach einem gelungenen Konzert - viele Musiker empfinden sie. Und Anu Tali?

"Ich habe mich schon manchmal nach einem Konzert leer gefühlt. Aber ich habe auch gelernt, mich dann wieder sehr schnell zu sammeln. Und während des Konzerts stehen ja zahlreiche Musiker unter meiner Leitung. Da lasse ich es nicht zu, dass die Klangwellen voll und ganz von mir Besitz ergreifen. Das könnte nämlich meine Sinne trüben. Musik hat auch mit Struktur und Formgebung zu tun. Das Gehirn muss Einstimmigkeit erzeugen."

Nur so könne eine wirkliche Partnerschaft zwischen ihr und dem Orchester entstehen. Beim Dirigieren darf sich Anu Tali nicht fallen lassen. Dafür aber, wenn sie ihre Zwillingsschwester auf dem Land besucht.

"Die estnische Landschaft hat mich nicht nur als Musikerin geprägt, sondern auch als Person. Wer auf das Land in Estland geht, kann nachvollziehen, warum die Esten so geduldig sind und auch manchmal etwas langsam. Das hat auch mit dem langen und dunklen Herbst und Winter zu tun. All das bildet die Basis für die estnische Musik und Literatur. Und ich fühle sehr stark, dass auch ich so geprägt bin."

Sie kann in jeder Stadt der Welt leben, die einen Flughafen hat, sagt Anu Tali. Und doch ergänzt sie: rein theoretisch. Denn die estnische Natur und Sprache sind einfach zu wichtig für sie. Die Eltern, ein Ingenieur und eine Mathematikprofessorin, haben nie eine besondere musikalische Ader gehabt. Anu Tali hingegen reagiert äußerst sensibel auf Musik, besonders auf schlechte, zum Beispiel auf die Berieselung im Supermarkt.

"Ich bin wirklich selten im Supermarkt. Deshalb geht es mir auch so gut. Ich mag keine leeren Geräusche, keine leeren Worte, keine bedeutungslose Musik. Ich hasse das Geräusch der Gasheizung. Ich mag die reine Stille. Sie bringt die besten Gedanken und Ideen hervor. Und daran mangelt es uns wahrscheinlich am meisten im Leben. Ich bin nun mal jemand, der immer wahrnimmt, was in seiner Umgebung zu hören ist."